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„Nicht schuldig“

Seit Montag muss sich der südafrikanische Paralympics-Star Oscar Pistorius vor Gericht verantworten, weil er am Valentinstag 2013 seine Freundin Reeva Steenkamp erschossen hat - wie er angibt, in Panik, weil er sie für einen Einbrecher hielt. Der Fall ist äußerst komplex, viele Fragen blieben vorerst offen.

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Während die Staatsanwaltschaft von vorsätzlichem Mord ausgeht, spricht die Verteidigung von einem tragischen Versehen. Der Prozess begann am Montag begleitet von weltweitem Interesse mit mehr als 90 Minuten Verspätung. Im voll besetzten Gerichtssaal saßen zahlreiche Verwandte und Freunde des Angeklagten und des Opfers.

Zeugin belastet Sportstar schwer

Pistorius bekannte sich nicht schuldig im Sinne der Anklage wegen Mordes. Der Staatsanwalt hatte zu Beginn des Prozesses in Pretoria den Vorwurf vorgetragen, Pistorius habe am 14. Februar 2013 seine Freundin Reeva Steenkamp mit Absicht und gezielt erschossen. Der 27-Jährige hatte eine Mordabsicht stets bestritten und gesagt, er habe in der Nacht einen Einbrecher hinter der verschlossenen Tür vermutet, durch die er schoss. Auch zu den anderen Vorwürfen in Zusammenhang mit Verstößen gegen das Waffengesetz erklärte sich Pistorius nicht schuldig.

Gleich die erste Zeugin der Anklage belastete den Sportstar schwer. Sie habe als Pistorius’ Nachbarin in der Tatnacht die heftigen Schreie einer Frau gehört und danach Schüsse, sagte Michelle Burger beim Prozessauftakt. Zwischen den Schüssen habe es eine größere Pause gegeben, sagte die Zeugin. Nach mehrstündigen Verhandlungen beschloss das Gericht am Nachmittag, den Prozess am Dienstag fortzusetzen.

Verwirrung über angeblich neues Beweismaterial

Am Vormittag versuchte zudem eine Frau, dem Gericht neues Material vorzulegen. Die Frau, die sich lediglich „Annemarie“ nannte, ist nach eigenen Angaben die frühere Frau des Orthopäden von Pistorius, Gerald Versfeld. Sie glaubt, Pistorius habe eine alte Kopfverletzung, die ihn bei seiner Tat beeinflusst habe. Das hatte sie schon zuvor südafrikanischen Journalisten gesagt, auf die sie allerdings einen geistig verwirrten Eindruck machte. Sie hatte schon die Urteilsverkündung zur Medienzulassung bei dem Pistorius-Prozess am Dienstag in Pretoria aufgehalten.

In dem Prozess wird es voraussichtlich um drei zentrale Fragen gehen: Gab es in der Tatnacht Streit zwischen den beiden? Warum rief Pistorius nicht die Polizei? Und wurden Spuren verwischt?

Ballistikuntersuchungen bestätigen Pistorius’ Version

In einer eidesstattlichen Erklärung sagte Pistorius aus, beide hätten am Valentinstag vergangenen Jahres einen ruhigen Abend zu Hause verbracht. Nach dem gemeinsamen Abendessen habe er ferngesehen, während Steenkamp Yogaübungen gemacht habe, dann seien beide eingeschlafen.

Er sei spät in der Nacht wegen eines Geräusches aufgewacht und ohne Beinprothesen zum Balkon gegangen, um dann einen Ventilator hereinzuholen. Ballistikuntersuchungen der Staatsanwaltschaft belegen, dass Pistorius während der Tat keine Prothesen trug.

Zeugen berichten von Streit und Licht im Haus

Im Dunkeln habe er dann ein Geräusch im Bad gehört und einen Eindringling vermutet. Er habe „fürchterliche Angst“ gehabt und habe deshalb das Licht nicht angemacht, sondern nach seiner 9-mm-Pistole unter dem Bett gelangt. Zeugen wollen laut Staatsanwalt aber bezeugen, dass vor den Schüssen Licht im Haus brannte. Sie sagten zudem aus, sie hätten lautes Rufen und Schreie aus dem Haus des Paares gehört. Auch die Mobilfunkdaten von Pistorius und Steenkamp könnten Indizien für eine Auseinandersetzung liefern.

Oscar Pistorius und Reeva Steenkamp

APA/EPA/Frennie Shivambu

Steenkamp war in Südafrika nicht nur als Model bekannt. Die ausgebildete Juristin war auch ein Fernsehstar.

Auswertung der Telefondaten

Steenkamp soll ihr Handy mit auf die Toilette genommen haben, als sie getötet wurde. Unklar ist, ob sie von dort aus jemanden anrief. Mit Spannung wird auch die Auswertung von Pistorius’ Telefonen erwartet. Laut angeblich neuen Beweisen soll von keinem der vier im Haus gefundenen Telefone ein Notruf ausgegangen sein.

Polizeiexperten reisten noch kurz vor Prozessbeginn in die USA, um in Zusammenarbeit mit Apple alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Aktivitäten auf einem iPhone zurückzuverfolgen. Pistorius soll in der Tatnacht auch Pornoseiten aufgerufen haben - was den Ermittlungsbehörden zufolge gegen eine „harmonische und romantische Nacht“ sprechen würde, die Pistorius beschrieben hatte.

Warum rief Pistorius nicht die Polizei?

Nach eigener Darstellung wählte Pistorius auf einem fünften Handy zwei Nummern, als er erkannte, dass er auf Steenkamp geschossen hatte: Die von Johan Stander von der Verwaltung des streng bewachten Wohnkomplexes, in dem sein Haus steht, außerdem die des privaten Gesundheitsdienstes Netcare. Die Anklage wird vermutlich Pistorius’ Beziehung zu Stander untersuchen.

Außerdem wird laut Medienberichten zu klären sein, warum Pistorius angeblich Sicherheitsleute abwimmelte, die nach den Schüssen bei ihm klingelten. Demnach schickte er sie weg und gab an, es sei alles in Ordnung, wie neue Beweise nahelegen sollen. Die Staatsanwaltschaft könnte versuchen nachzuweisen, dass Pistorius Steenkamp tötete und dann versuchte, Beweise zu vertuschen.

Halfter der Tatwaffe unter der Bettseite Steenkamps

Staatsanwalt Gerie Nel wird außerdem vermutlich der Frage nachgehen, weshalb sich ein vermeintlicher Einbrecher im Badezimmer einsperren sollte. Zu hinterfragen wird auch sein, wie Pistorius unter seinem Bett nach der Waffe gegriffen haben kann, ohne gleichzeitig festzustellen, dass das Bett leer war. Die Polizei fand das Halfter der Tatwaffe unter der Bettseite Steenkamps. Der Staatsanwalt sieht auch darin ein Indiz, dass Pistorius gemerkt haben müsste, dass sie nicht im Bett lag.

Steenkamp soll zudem angezogen gewesen sein, als sie erschossen wurde. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass das im Widerspruch zur Darstellung von Pistorius steht, wonach die beiden nach einem friedlichen Abend ohne besondere Vorfälle ins Bett gegangen seien. Ungeklärt ist zudem, ob der 27-Jährige nach dem ersten Schuss keine Geräusche hörte, die Steenkamp identifiziert hätten. Pistorius feuerte den Ermittlungen nach vier Schüsse durch die abgeschlossene Toilettentür im Bad und traf Steenkamp dreimal. Die Verteidigung betont, dass die Schüsse aus einiger Distanz abgeschossen worden waren, der Staatsanwalt sagt, aus großer Nähe zur Tür.

Pannen bei Spurensicherung

In der Kautionsverhandlung räumte der damalige leitende Ermittler Hilton Botha Pannen bei der Spurensicherung ein. Demnach betrat er Pistorius’ Haus ohne entsprechende Schutzschuhe, außerdem ging Munition vom Tatort verloren. In dem Fall, in dem der Angeklagte gleichzeitig der einzige Zeuge ist, werden forensische Indizien und Beweismittel vermutlich eine Schlüsselrolle spielen.

Die nachlässige Untersuchung des Tatorts könnte die Zuverlässigkeit dieser Indizien infrage stellen. Vertreter der Anklage räumten bereits ein, dass Pistorius von der Badezimmertür vermutlich weiter entfernt war als zunächst angenommen, und dass er seine Beinprothesen womöglich doch nicht trug. Beides führte die Staatsanwaltschaft zunächst als Indizien dafür an, dass Pistorius nicht in Panik handelte, sondern vorsätzlich.

Mutter von Steenkamp will Pistorius vergeben

Reeva Steenkamps Mutter June Steenkamp sagte vor dem Prozessauftakt, sie könnte sich vorstellen, dem südafrikanischen Sprintstar zu verzeihen. „Ich werde bereit sein, ihm zu vergeben“, sagte June Steenkamp vor dem Prozessauftakt am Montag der Zeitung „The Star“. „Aber zuvor will ich ihn zwingen, mich anzublicken, damit er den Kummer und den Schmerz sieht, den er mir bereitet hat“, sagte die 67-Jährige. Es sei ihre „Obsession“, die Wahrheit und die Gründe für die Tat zu erfahren, sagte June Steenkamp weiter. Sie habe aber „keinen Hass und keine Rache in meinem Herzen“.

TV-Übertragung Premiere für Südafrika

Millionen werden den Prozess live im Fernsehen verfolgen können. Ein Gericht gab dem Recht der Öffentlichkeit den Vorzug vor Bedenken des Sportstars. Ein Mordprozess live im Fernsehen bedeutet eine Premiere für Südafrika. Der Prozess gegen den Paralympics-Star darf teilweise vom Fernsehen und vollständig im Rundfunk und anderen Audiomedien übertragen werden.

Nicht direkt im Fernsehen gezeigt würden Aussagen des Angeklagten und Zeugen der Verteidigung, betonte der Gerichtspräsident der südafrikanischen Provinz Gauteng, Dunstan Mlambo, letzte Woche. Live übermittelt werden können dagegen Aussagen von Polizisten, Experten, Zeugen der Anklage sowie die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger zu Beginn und am Ende des Prozesses.

Drei Wochen vorgesehen

Hunderte Journalisten werden das auf drei Wochen angelegte Verfahren vor dem Gauteng High Court in Pretoria verfolgen. Sollte der 27-Jährige wegen Mordes schuldig gesprochen werden, drohen ihm 25 Jahre im Gefängnis und das abrupte Ende seiner bisher so schillernden Karriere.

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