Zwischen Alm und Großstadt
„Heidi“ gehört zu den bekanntesten literarischen Figuren überhaupt und hat weltweit das Bild der Schweiz geprägt. In den USA wurde die Geschichte des kleinen Waisenkindes, das zuerst auf der Alm aufwächst und später in Frankfurt lebt, durch die Verfilmung mit dem Kinderstar Shirley Temple in den späten 1930er Jahren berühmt.
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Das erste der beiden „Heidi“-Bücher von Johanna Spyri (1827 bis 1901) erschien nach Angaben der Zürcher Johanna-Spyri-Stiftung Anfang 1880. Innerhalb nur weniger Wochen hatte die Autorin die Geschichte niedergeschrieben. Bis heute gehört „Heidi“ zu den erfolgreichsten Erzählstoffen der Kinderliteratur.
Laut Spyri-Museum im schweizerischen Hirzel, der Geburtsstadt der Autorin im Kanton Zürich, wurde das Buch in 50 Sprachen übersetzt und in ebenso vielen Millionen Exemplaren gedruckt. Was heute für viele „Harry Potter“ ist, war früher oft „das Heidi“, wie sie auch im zweiten Roman immer genannt wird („Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“, 1881).
Kultstatus durch Filme und Jodler
Spätere Generationen lernten die Geschichte des naturnahen Waisenkindes mit „Frankfurt-Trauma“ vielfach nicht als Buch, sondern als Spiel- oder Trickfilm kennen - wie dem Hollywood-Film mit Temple sowie einer japanischen Zeichentrickserie aus den 70er Jahren. In Deutschland erreichte deren Jodel-Titelsong von Christian Bruhn Kultstatus, zumindest bei den 1970er Geburtsjahrgängen.
Inhaltlich hält sich die animierte Serie erstaunlich nah an das Buch. Allerdings fehlen der japanischen Produktion oft die für Spyri wichtigen europäisch-religiösen Bezüge. Veränderungen der „Heidi“-Handlung waren übrigens schon recht früh möglich, da das Urheberrecht damals bereits 30 Jahre nach dem Tod der Autorin erlosch.
Die Gefangenschaft in der engen Stadt
Die Leiterin der Forschungsabteilung der Johanna-Spyri-Stiftung in Zürich, Verena Rutschmann, weiß viel über Heidi und ihre Erfinderin. Die als Johanna Louise Heusser geborene Spyri, die gerne Annette von Droste-Hülshoff und Wolfgang Goethe las, habe zeit ihres Lebens unter den gerade für Frauen strengen bürgerlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts gelitten. Das verarbeitete sie offenbar auch in den Frankfurt-Passagen der Heidi-Geschichte, in denen das Mädchen von der Enge der Stadt, in der man nicht gefahrlos hinauslaufen kann wie auf der Alm, sowie den strengen Erziehungsmethoden des Fräulein Rottenmeier krank wird.
Durch ihre Familie und ihren Glauben - sie war pietistisch erzogen - war Spyri öfter in Bremen. Warum sie sich als krankmachende Stadt ausgerechnet Frankfurt aussuchte, ist nicht ganz klar. „Sie kannte Frankfurt nur von der Durchreise, aber wahrscheinlich wollte sie keine vom Adel geprägte Großstadt und auch keine katholische nehmen“, so Rutschmann.
Zudem sollte die Stadt weiter weg von den Alpen sein als etwa München. So kam es wohl zur Wahl der Handelsstadt am Main. Im früher sehr bürgerlichen Frankfurt konnte Spyri literarisch das Leid des Naturkindes voll entfalten, sagt Rutschmann. Heidis Erfinderin litt übrigens, trotz eines äußerlich reichen Lebens, jahrelang an Depressionen. Einziges Heilmittel für die Autorin - und so auch für ihre Figur Heidi - wurde der Glauben.
Gregor Tholl, dpa
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