Themenüberblick

Gespannte Stimmung nach ruhiger Nacht

Nach den schwersten Unruhen seit dem Krieg von 1992 bis 1995 mit 150 Verletzen und enorm hohem Sachschaden haben Vertreter der Demonstranten am Samstag nach einer weitgehend ruhigen Nacht eine „politische Revolution“ gefordert. Angesichts der katastrophalen sozialen Lage fordern sie in einem Fünfpunktekatalog tiefgreifende Veränderungen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Demnach sollen beispielsweise die Einkommen aller Politiker an den äußerst niedrigen Durchschnittslöhnen im Land ausgerichtet werden. Zudem sollen die „kriminellen Privatisierungen“ der Staatsbetriebe rückgängig gemacht und die „Wirtschaftskriminellen“ vor Gericht gestellt werden. Außerdem verlangen die Protestierer, dass nach dem Rücktritt der Regionalregierung in Tuzla nur parteilose Experten eine neue Regierung bilden. Die Stadt war am Freitag das Zentrum der Gewalt.

Schwere Verwüstungen

Doch Schauplätze gewaltsamer Proteste gab es viele: Zehntausende Menschen waren im ganzen Land gegen die ihrer Meinung nach unfähigen Politiker auf die Straße gegangen. Mit weitreichenden Folgen: Gebäude der Regionalregierungen in Tuzla und Sarajevo gingen in Flammen auf. Das bosnische Staatspräsidium wurde ebenfalls angezündet und schwer verwüstet. Wertvolle Bestände des Staatsarchivs verbrannten, wie die Direktion gegenüber der Tageszeitung „Dnevni avaz“ bestätigte. Auch in Zenica und Mostar wurden Brände gelegt, Ausschreitungen gab es auch in Bihac.

Brennendes Auto

Reuters

In Sarajevo wurden zahlreiche Polizeiautos in Brand gesteckt

Am Samstagvormittag war in Sarajevo rund um das Präsidialamt ein starker Brandgeruch zu verspüren, nachdem es der Feuerwehr in der Nacht gelungen war, die Flammen in dem Gebäude zu löschen. Unterdessen rief eine der Gruppen, die in Tuzla die Proteste mitorganisiert hatte, ihre Anhänger am Samstag via Facebook zum Aufräumen des angerichteten Schadens auf. Doch von vielen Einwohnern der Schauplätze der Gewalt kam am Samstag auch Kritik an der Gewalt - schließlich hatten sich Augenzeugen zufolge Hooligans unter die Tausenden Demonstranten gemischt.

Während es in anderen Landesteilen überwiegend ruhig blieb, forderten am Samstagnachmittag rund 3.000 Menschen in Bihac den Rücktritt des lokalen Regierungschefs Hamdija Lipovaca. Die Polizei musste die Demonstranten davon abhalten, zum Wohnsitz Lipovaca vorzudringen, sonst verlief der Protest jedoch friedlich.

EUFOR-Intervention möglich

Nach Angaben des Innenministers Fahrudin Radoncic wurden am Freitag landesweit 219 Personen verletzt, die Hälfte davon Polizisten. Insgesamt nahmen laut offiziellen Angaben etwa 600.000 Menschen an den Demonstrationen teil. Über ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft soll in einer Sitzung am Dienstag entschieden werden, sagte der internationale Bosnien-Beauftragte Valentin Inzko am Abend in der ZIB2. Allerdings hätten die Menschen ein Recht auf einen friedlichen Protest, nur wenn es weitere Ausschreitungen und Hooliganismus gebe, würde man das in Betracht ziehen

In Bosnien-Herzegowina sind 800 Friedenssoldaten stationiert, darunter 300 Österreicher. "Ausländer waren von den Ausschreitungen nicht betroffen“, so Inzko weiter. Der österreichische Botschafter habe ihm Freitagabend versichert, dass alle Österreicher wohlauf seien und alle in Bosnien-Herzegowina tätigen österreichischen Firmen die Ausschreitungen unbeschadet überstanden hätten.

Es ging bei den Protesten „um die soziale Lage vieler und den Reichtum einiger weniger“, so Inzko. Der Dayton-Vertrag sei eben ein Friedensvertrag gewesen und habe nicht zu einer perfekten Verfassung geführt. So gebe es allein im bosnisch-kroatischen Landesteil 150 Minister und 14 Regierungschefs sowie viele Doppelgleisigkeiten. Man arbeite aber an einer Verfassungsänderung im größeren Landesteil. So sei zurzeit ein Entwurf mit 188 Änderungsvorschlägen auf dem Tisch.

„Schlag des Volkes gegen staatliche Mafia“

Der bosnische Innenminister Fahrudin Radoncic bezeichnete die Protestwelle zuvor als „Tsunami“. Er kritisierte die Regierung im größeren Landesteil, der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, als „sehr ineffizient“. Schuld an der Lage sei auch die Staatsanwaltschaft, die bei der Bekämpfung der Korruption versagt habe. Die Ausschreitungen seien „kein Staatsstreich“, sondern „ein Schlag des Volkes gegen die staatliche Mafia“, analysierte Radoncic die Proteste: „Das sind die Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot haben.“

Mann tritt gegen eine Überwachungskamera

Reuters/Haris Begic

In vielen größeren Städten kam es zu Verwüstungen - der Sachschaden ist enorm

Er habe schon vor Monaten davor gewarnt, dass es zum „Tsunami“ der plündernden Bürger kommen würde, sagte Radoncic der Tageszeitung „Dnevni avaz“. Die Regierungen in dem bosnischen Landesteil hätten nämlich „nicht einmal ein Mindestmaß an sozialem Gefühl an den Tag gelegt“. Der Innenminister verwies auch auf die Probleme seines eigenen Ministeriums. Dieses verfüge über keine Einsatzdaten und habe laut Gesetz keine Kompetenzen für die Polizei. Die lokalen Polizeikommandanten würden auf eigene Faust oder Anordnung der jeweiligen regionalen Regierungschefs agieren.

„Wir tragen die ganze Schuld“

„Wir tragen die ganze Schuld“, sagte der Vorsitzende des bosnischen Staatspräsidiums, Zeljko Komsic, am Freitagnachmittag. Die Behörden hätten bereits vor drei Tagen mit den Demonstranten in Tuzla reden müssen, wo die Protestwelle begonnen hatte. Er wisse auch nicht, ob die Staatsinstitutionen überhaupt in der Lage seien, zu funktionieren. „Aus der Anarchie kann allerdings nichts Gutes hervorgehen“, sagte Komsic im TV-Sender der Bosniakisch-Kroatischen Föderation TVBH.

Einen Einsatz von Streitkräften gegen die Unruhestifter schloss Komsic dezidiert aus. „Wie könnte man die Truppen gegen eigenes Volk einsetzen.“ Komsic will nach eigenen Worten eine Dringlichkeitssitzung des Staatspräsidiums einberufen. Er wisse aber nicht, ob die beiden weiteren Mitglieder - Bosniake Bakir Izetbegovic und Serbe Nebojsa Radmanovic - seiner Einladung auch folgen würden, sagte er.

Proteste von Tuzla ausgegangen

In Tuzla, einst ein wichtiger Industriestandort, gingen auch Beschäftigte von privatisierten und pleitegegangenen ehemaligen Staatsbetrieben auf die Straße, die seit Monaten keinen Lohn mehr bekamen. Anlass für die in Tuzla begonnen Proteste waren Konkursverfahren von fünf ortsansässigen Firmen, wodurch etwa 10.000 Personen ihren Job verlieren dürften. Schon in den vergangenen Jahren war Tuzla besonders schwer von Fabrikschließungen betroffen.

In dem seit dem Bosnien-Krieg der neunziger Jahre weiterhin ethnisch tief gespaltenen Staat verliefen auch die Proteste gegen die Arbeitslosigkeit und die Armut nach einer ethnischen Trennlinie. Im kleineren Landesteil, der Serbischen Republik, in der die soziale Lage keineswegs besser als in der Bosniakisch-Kroatischen Föderation ist, wurde am Freitag nur im Verwaltungszentrum Banja Luka eine Protestkundgebung abgehalten. Eine Studentenorganisation appellierte dort an ihre Mitglieder, sich nicht den „Verrätern“ anzuschließen. In der Bosniakisch-Kroatischen Föderation hingegen erfassten die Proteste so gut wie alle größeren Städte.

Links: