„Sie zerstören unsere Zukunft“
In Bosnien sind Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit und Verelendung am Freitag in Gewalt umgeschlagen: In der Hauptstadt Sarajevo setzten aufgebrachte Demonstranten am Abend unter anderem das Präsidentschaftsgebäude in Brand. Das gesamte Stadtarchiv ist verbrannt.
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Die Lage hat sich am Abend etwas beruhigt, sagte der internationale Bosnien-Beauftragte Valentin Inzko am Abend in der ZIB2. Allerdings seien noch nicht alle Brände gelöscht. Und das gesamte Stadtarchiv in Sarajevo sei verbrannt. Das Archiv habe drei Kriege überstanden, „der Schaden ist immens“, zeigte sich Inzko erschüttert.
In Tuzla im Nordosten des Landes stürmten etwa 100 Vermummte den Sitz der Regionalverwaltung und legten Feuer in dem Gebäude. Landesweit gab es rund 150 Verletzte. 80 Verletzte wurden in Sarajevo und 50 in Zenica gezählt. Die Flammen am Sitz der Präsidentschaft in Sarajevo breiteten sich bis zum zweiten Stockwerk aus, wie die amtliche Nachrichtenagentur FENA meldete.

Reuters/Dado Ruvic
Brandanschlag auf Regierungsgebäude
Das Präsidentschaftsgebäude hatten Demonstranten zuvor bereits mit Steinen beworfen. Andere Demonstranten stürmten das benachbarte Gebäude der Regionalregierung von Sarajevo, schlugen alle Fenster ein und legten auch dort Feuer. In Tuzla drangen die vermummten Jugendlichen mit Abzeichen des örtlichen Fußballclubs in das Gebäude der Regionalregierung ein, zerstörten die Einrichtung und warfen Fernseher aus den Fenstern. Mehr als 5.000 Demonstranten applaudierten den Jugendlichen.
Polizei zog sich zurück
Aus der ersten Etage des zehnstöckigen Gebäudes drangen Flammen und dichter schwarzer Rauch. Hunderte Polizisten, die das Gebäude zuvor gesichert hatten, zogen sich zurück. Sie riegelten stattdessen ein Gebäude in der Nähe ab, in dem die Notdienste der Stadt untergebracht sind. Einer der Anführer des Protests in Tuzla, Aldin Siranovic, forderte in einer Rede an die Menge den Rücktritt der Regierung. „Sie bestehlen uns seit 25 Jahren und zerstören unsere Zukunft“, rief er zur Begründung. Am Abend versuchte die Feuerwehr, zwei Brände in Gebäuden der Stadtverwaltung zu löschen.

APA/EPA/Dzenan Krijestorac
Auch Polizeiautos in Sarajevo brannten
In Zenica im Zentrum des Landes wurden bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen 3.000 Demonstranten und Sicherheitskräften fünf Polizisten verletzt. Die Demonstrationen sind die größten seit dem Bosnien-Krieg (1992 - 1995). Sie sind Ausdruck der Verzweiflung der Menschen und ihrer Wut über eine vielfach korrupte Führungsschicht, die sich außerstande zeigt, die verheerende Wirtschaftslage in den Griff zu bekommen.
Festnahmen und Rücktritte
Wie Samstagvormittag bekanntwurde, ist bereits in den Nachtstunden der Führer der Unabhängigen Gewerkschaftsunion, Josip Milic, festgenommen worden. Ihm wird vorgeworfen, hinter den Protesten zu stehen. Ob sich dieser Vorwurf erhärtete, war vorerst nicht klar. In Tuzla reichte Regierungschef Sead Causevic Freitagnachmittag seinen Rücktritt ein. In Zenica sind Medienberichten zufolge Premier Munib Husejnagic und alle zehn Minister zurückgetreten. Bestätigt wurden diese Meldungen jedoch noch nicht.
Schon am Donnerstag waren in Tuzla die Proteste gegen die schlechte bosnische Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit in Krawalle umgeschlagen. Mehr als 130 Menschen wurden bei Zusammenstößen verletzt. Der Polizei zufolge nahmen am Donnerstag etwa 2.000 Menschen an den Protesten teil, in Medienberichten war von 7.000 Teilnehmern die Rede. 30 Demonstranten und mehr als hundert Polizisten wurden nach Angaben eines Krankenhaussprechers in die Notaufnahme gebracht. Acht Demonstranten wurden festgenommen.

Reuters/Dado Ruvic
In Tuzla nahm die Protestwelle ihren Ausgang
Die Schulen in Tuzla blieben am Freitag aus Furcht vor neuen Ausschreitungen geschlossen. Protestkundgebungen waren auch in zwei Dutzend weiteren Städten angekündigt, darunter Prijedor, Mostar, Banja Luka und Bihac. Die Demonstrationen dauern seit Mittwoch an. Die Arbeitslosenquote in Bosnien liegt bei mehr als 44 Prozent. Nach amtlichen Angaben lebt ein Fünftel der 3,8 Millionen Bosnier in Armut, viele leiden Hunger. Der durchschnittliche Monatslohn in dem Balkanland liegt bei 420 Euro.
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