Vom Tyrann, der den Instinkt verloren hat
Anstatt der mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen Silvesterpremiere hat das Burgtheater heuer mit „König Lear“ ein vorweihnachtliches Geschenk gemacht: Peter Steins Inszenierung mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle.
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Der unglückliche König, der mit der Aufteilung seines Erbes an seine Töchter größtes Unheil auslöst, gilt als eine der ganz großen Rollen, quasi als Adelsschlag für einen Schauspieler. Umso mehr, wenn er sie am Burgtheater spielen darf. Für Brandauer, der nach Gert Voss (2005) nun als „Lear“ zu sehen ist, ist es vielleicht eher so etwas wie die Bestätigung, denn dass er in dieser Liga spielt, ist nun weder neu noch überraschend.

APA/Hans Klaus Techt
Klaus Maria Brandauer spielt Lear
Gemeinsam mit Stein, mit dem er schon seit einigen Jahren das eingeschworene Klassikerpaar des deutschsprachigen Theaters - von „Wallenstein“ bis „Ödipus“ - bildet, wollte er das Shakespeare-Drama schon vor einiger Zeit in Berlin auf die Bühne bringen, was an der Finanzierung scheiterte. An der Burg ist der „Lear“ jetzt gleich in mehrfacher Hinsicht schön platziert, als spätes Hausdebüt für Stein und das Rollendebüt für Brandauer quasi als ein Geschenk zum 70. Geburtstag.
Die fortschreitende Verwirrung
Der Beginn der mehr als vierstündigen Aufführung ist recht thesenhaft gebaut, eher hölzern tragen die zwei älteren Töchter Lears (Dorothee Hartinger und Corinna Kirchhoff) ihre falschen Liebesschwüre vor dem mächtigen Vater vor. Weil die Jüngste, gespielt von Pauline Knof, falsche Schleimereien verweigert, wird sie von Lear im großen Zorn ohne Mitgift verstoßen. Brandauers Lear ist ein Mann, der nicht erst durch diese folgenschwere Entscheidung in den Wahnsinn stürzt, sondern der von Beginn an von einem anstrengendem Leben gezeichnet ist.
Strategische Pläne, durchdachte Taktik waren dieses Königs Sache nie, seine Macht beruht rein auf Instinkt. Doch den hat er längst verloren, zusammen mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. Brandauer ist als Lear weniger laute, aufbrausende Urgewalt als Greis, dessen Verwirrung schnell fortzuschreiten scheint. Er ist einer, der nicht nach vorne schreit, sondern Befehle und Entscheidungen mehr hinwirft, als klar und deutlich ausspricht.
Der kleine Schritt von Tyrannei zu Wahnsinn
Der Weg vom tyrannischen König zum kompletten Verfall in den Wahnsinn ist in Steins Zeichnung gar kein so weiter, doch mit jedem Schritt wird er eindrucksvoller. Die Intrigen, die zum einen die gierigen Schwestern spinnen, zum anderen Edmund (Michael Rotschopf), der uneheliche Sohn des Grafen Glosters (Joachim Bißmeier) gegen Vater und Bruder Edgar (Fabian Krüger), treiben die Abwärtsspirale weiter, bis die leere Bühne, nebelumwabert, zum Irrgarten wird, aus dem es keinen Ausweg gibt. Am Ende bleibt nur verbrannte Erde, der reitende Bote ist zu spät gekommen, nichts mehr zu retten, völlig Erstarrung.

Burgtheater/Reinhard Werner
Der alte König verliert die Kontrolle über Reich, Familie und Leben
Werktreue im leeren Raum
Stein frönt der radikalen dramatischen Werktreue einmal mehr und verzichtet kompromisslos auf gefallsüchtige Interpretationen, auf strapazierte Aktualisierungen - auf Dekonstruktionsansätze sowieso. Freilich könnte man behaupten, dem Ganzen haftet der Hauch des Antiquierten an, doch genau damit gelingt es ihm auch, die Komplexität von Shakespeares düsterster Tragödie in allen Facetten zu bewahren, statt sie auf wenige Aspekte zu reduzieren. Wenn Sätze fallen wie „Das ist die Seuche unserer Zeit: Verrückte führen Blinde“ braucht kein Publikum der Welt eine inszenierte Aktualisierung, um die Zeitlosigkeit der Sprache zu erkennen.
„König Lear“ spielt im Burgtheater auf der großen, leeren Bühne (Ferdinand Wögerbauer), in der Shakespeare’schen Aufführungstradition konzentriert auf Text und Inhalt. Einen geschützten Raum gibt es hier nirgends, nur für die zu späte Versöhnung mit der verstoßenen Tochter senkt sich ein Zelt vom Schnürboden auf die Bühne. Die Kostüme, historisch aufwendig und doch schlicht, von Annamaria Heinrich sorgen für die Verortung im England des 12. Jahrhunderts, zwischen tribaler Rohheit und den Ansätzen höfischer Eleganz. Durch Farbcodes unterscheiden sich die Gefolgschaften der Töchter, die jeweils darauf abgestimmte Lichtstimmung bleibt weitgehend die einzige Änderung im Bühnenbild.
Große Ensembleleistung
Kein unnötiger Schnickschnack also, kein Theaterzauber, sondern eine Inszenierung völlig auf die Schauspieler zugeschnitten. Mit Betonung auf den Plural, denn auch mit derart prominenter Titelrollenbesetzung bleibt Steins „Lear“ ein Ensemblestück erster Güte, in dem gleich eine ganze Reihe an Burgschauspielern glänzen darf.
Hinweis
„König Lear“ ist im Burgtheater am 26. und 28. Dezember sowie am 5., 17., 20. und 29. Jänner jeweils um 18.00 Uhr zu sehen.
In der Detailkritik fällt es bei derartig hohem Niveau schwer, einen Anfang zu finden. Von Michael Maertens als Narr, der es nicht not hat, die Rolle durch clowneske Späße zu verfremden, über einen herausragenden Fabian Krüger bis zu den Schwestern und ihren Männern (Martin Reinke, Dietmar König, Sven Philipp) sind Brandauers Mitspieler erster Güte.
Dementsprechend fiel auch die Reaktion des Publikums aus: viel Jubel und ein langer Applaus für die Schauspieler - besondere Ovationen oder Buhrufe gab es aber weder für Stein noch für Brandauer. Das Weihnachtsgeschenk des Burgtheaters, es ist ein großer Abend geworden, eine große Überraschung ist er aber keineswegs: Es ist, was es ist.
Sophia Felbermair, ORF.at
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