Pointierte und überraschende Argumente
19 namhafte österreichische Historikerinnen und Historiker haben auf Einladung der ZIB2 die aus ihrer Sicht wichtigsten Daten der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert und jene in der Geschichte Österreichs im abgelaufenen Jahrhundert genannt.
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Interessant bei der Durchsicht der Listen: die Abweichungen in den Ergebnissen. Zwar ist man sich bei den großen Ereignissen weitgehend einig, doch interessant sind Details. Da gibt es schon einmal Listen, in denen die Besetzung der Hainburger Au als wichtiger und symbolträchtiger gewertet wird als die Unterzeichnung des Staatsvertrags. Fast alle Expertinnen und Experten weisen freilich darauf hin, dass Daten bestenfalls Symbolcharakter haben und Geschichte als etwas Prozesshaftes gesehen werden muss. Die Antworten sind in den Details so vielfältig wie mitunter sehr pointiert.

mediendienst.com/Foto Wilke
Brigitte Bailer-Galanda
Dokumentationsarchiv
Brigitte Bailer-Galanda ist wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und Honorarprofessorin für Zeitgeschichte an der Universität Wien.
Ihre Weltgeschichtsdaten für das 20. Jahrhundert beginnen am 25. Juli 1909 mit der ersten Überquerung des Ärmelkanals in einem Motorflugzeug.
Mehr zu ihrer Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Bailer-Galandas Wertung.

Privat
Peter Berger
Wirtschaftsuniversität Wien
Peter Berger ist Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien. 2007 erschien seine „Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert“.
Für seine Überlegungen zur Aufgabenstellung beginnt er mit Karl Kraus: „Sie kennen wahrscheinlich die Geschichte, die Karl Kraus 1924 erzählt. Er wird, zusammen mit anderen europäischen Intellektuellen (ich glaube, es waren insgesamt hundert) ersucht, die Frage zu beantworten, worin der größte Beitrag der bolschewistischen Revolution zur Weltgeschichte bestanden habe.“
Mehr zu Peter Bergers Überlegungen zu den wichtigsten Daten der Weltgeschichte und der Geschichte Österreichs in Peter Bergers Kurzessay.

Privat
Günter Bischof
University of New Orleans
Günter Bischof ist Professor für Geschichte und Direktor des CenterAustria an der University of New Orleans. Er ist Mitherausgeber von „Contemporary Austrian Studies“ (22 Bände).
Seine Weltgeschichtsdaten für das 20. Jahrhundert beginnen mit den Ereignissen im Juni und Juli 1914 mit der Ermordung des Habsburger-Thronfolgers und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Günter Bischofs Wertung.

Lisa Rastl
Eva Blimlinger
Akademie der bildenden Künste
Eva Blimlinger ist Rektorin der Akademie der bildenden Künste in Wien und seit 2008 Wissenschaftliche Koordinatorin der Kommission für Provenienzforschung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.
Blimlinger beginnt ihre Bewertung mit einer Vorüberlegung: „Schon die Gewichtung zwischen der Welt und Österreich – zehn Ereignisse/Daten für die Welt, fünf für Österreich – kann nicht ganz stimmen, was die Bedeutung und die Position Österreichs in der Welt betrifft, wenn überhaupt, wäre es ein Datum, ein Ereignis.“
Mehr zu ihrer Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Eva Blimlingers Wertung.

Aurel Botz
Gerhard Botz
Universität Salzburg, emeritiert
Gerhard Botz war von 1980 bis 1997 an der Universität Salzburg und von 1997 bis 2009 an der Universität Wien Professor für Zeitgeschichte. Er leitet das Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft in Wien.
Auch Botz beginnt seine Wertungen mit einer Vorüberlegung: „Es ist schwierig, wenn nicht unzulässig, (globale wie nationale), historisch wirksame (Groß-)Ereignisse auf ein einziges Datum zu fixieren. Meist handelt es sich dabei um Prozesse, Auf- und Abwärtsschwingungen, die sich auch überlagern und auf einzelne Daten fokussieren können, je nach Betrachtungspunkt und -perspektive.“
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Gerhard Botz’ Wertung.

Universität Salzburg
Helga Embacher
Universität Salzburg
Helga Embacher ist außerordentliche Professorin am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg.
Auch sie beginnt mit einer Vorbemerkung: „Ich habe mich im Wesentlichen auf politische Ereignisse beschränkt, wobei immer mitbedacht werden muss, dass diese durch vorhergehende Prozesse und politische Entwicklungen ausgelöst werden.“
Mehr zu ihrer Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Helga Embachers Wertung.

Privat
Michael Gehler
Akademie der Wissenschaften
Michael Gehler ist Professor und Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim und Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Gehler beginnt seinen Blick auf die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Jahr 1917: „Kriegseintritt der USA und Oktoberputsch der Bolschewiki.“
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Michael Gehlers Wertung.

Privat
Gerhard Jagschitz
Universität Wien, emeritiert
Gerhard Jagschitz war von 1985 bis 2001 Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Wien.
Auch Jagschitz sieht sich zu einer skeptischen Vorbemerkung gedrängt, wenn es um einen Blick auf Ereignisse geht: „Ich sehe erstens ein gewisses Problem in der Beschränkung auf Ereignisse, Prozesse (z. B. Entkolonialisierung) können die Welt ebenso nachhaltig verändern. Zweitens ist das Geschehen seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr durch Medien bestimmt und verschiebt die
Wertungen der Wahrnehmung (etwa die weltweite Geiselhaft bezüglich 9/11 und die fast völlige Ausblendung der Massaker in Ruanda). Drittens haben wir alle unsere Europazentrierung im Kopf.“
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Gerhard Jagschitz’ Wertung.

Privat
Reinhard C. Heinisch
Uni Salzburg
Reinhard C. Heinisch ist Professor für Österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive und Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Bis 2009 war er Professor für Political Science an der University of Pittsburgh.
Für Heinisch beginnen die Daten der Weltgeschichte am „28. Juli 1914 mit der Österreichisch-Ungarischen Kriegserklärung an Serbien“.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Reinhard C. Heinischs Wertung.

APA/Manuela Schwarzl
Stefan Karner
Universität Graz
Stefan Karner ist Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Universität Graz sowie Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. 2008 war er wissenschaftlicher Leiter der Staatsausstellung „90 Jahre Republik Österreich 1918/2008“ im Parlament in Wien.
Auch für Karner, der jedes Datum sehr ausführlich kommentiert, ist eine Vorbemerkung unumgänglich: „Eine Kontextualisierung der Ereignisse ist zwingend notwendig. Sie kann im vorliegenden Format nur im rudimentären Ansatz erfolgen.“
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Stefan Karners Wertung.

Privat
Helmut Konrad
Universität Graz
Helmut Konrad ist seit 1984 Professor für Allgemeine Zeitgeschichte unter Berücksichtigung außereuropäischer Länder und Kulturen an der Universität Graz. An der Erstellung seiner Auflistung hat „fast die ganze Abteilung Zeitgeschichte mitgemacht. Ich darf Ihnen unsere kollektiven Überlegungen übermitteln.“
Diese kollektive Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts beginnt nach Daten geordnet im Jahr 1903: „Erster Flug der Gebrüder Wright. Kündigt neue Formen der Mobilität, aber auch der Kriegsführung an.“
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Privat
Gerhard Mangott
Universität Innsbruck
Gerhard Mangott ist außerordentlicher Professor für Internationale Politik und Vergleichende Regimelehre am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck und Scientific Adviser on Post-Soviet Affairs am Österreichischen Institut für Internationale Politik, Wien.
Seine Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts beginnt im August 1914: Mit Deutschlands Kriegserklärung an Russland und Frankreich. Und der Kriegserklärung Großbritanniens.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Gerhard Mangotts Wertung.

Privat
Anton Pelinka
Central European University Budapest
Anton Pelinka ist seit 2006 Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University in Budapest. Zuvor war er drei Jahrzehnte lang Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. 2007 war er Koautor von „Österreichische Politik. Grundlagen – Strukturen – Trends“ (3. Auflage), 2011 erschien „Europa. Ein Plädoyer“.
Pelinka beginnt seine Weltgeschichte klar und knapp: bei den Schüssen von Sarajevo.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Anton Pelinkas Wertung.

Privat
Oliver Rathkolb
Universität Wien
Oliver Rathkolb ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien und Obmann des Vereins zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte. 2011 erschien sein jüngstes Buch „Die paradoxe Republik. Österreich 1945 - 2010“ in einer aktualisierten Neuauflage.
Für Rathkolb sind die Daten des 20. Jahrhunderts nur verständlich, zieht man die „erste Globalisierung“ der Welt zwischen 1850 und 1870 als „Folge von tiefgreifenden Innovationen und deren ökonomischer, aber auch kultureller Anwendung“ in Betracht.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Oliver Rathkolbs Wertung.

Privat
Manfried Rauchensteiner
Heeresgeschichtliches Museum, i. R.
Manfried Rauchensteiner war außerordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Wien und von 1992 bis 2005 Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums. 2013 erschien sein jüngstes Buch „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914 – 1918“.
Für Österreich, so Rauchensteiner, komme man bei einer Geschichte der Daten mit fünf Ereignissen nur schwerlich aus, so argumentiert er in einer „Nachbemerkung“.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Manfried Rauchensteiners Wertung.

Privat
Kathrin Stainer-Hämmerle
Fachhochschule Kärnten, Klagenfurt
Kathrin Stainer-Hämmerle ist Professorin für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Kärnten in Klagenfurt.
Stainer-Hämmerle beginnt die Weltgeschichte wie viele ihrer Kollegen im Juli 1914. Interessant ihre österreichischen Geschichtsdaten, wo sie den Innsbrucker Parteitag der FPÖ und den Aufstieg des Rechtspopulismus in Österreich als eines der fünf wesentlichen Daten der heimischen Geschichte wertet.
Mehr zu ihrer Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Kathrin Stainer-Hämmerles Wertung.

Privat
Gerald Stourzh
Universität Wien, emeritiert
Gerald Stourzh war von 1969 bis 1997 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wien. Sein Buch „Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945 - 1955“ (5. Auflage 2005) gilt als das Standardwerk zum Österreichischen Staatsvertrag.
Stourzh kann seine Liste mit den Daten zu Österreich nicht auf unter sechs streichen - er riskiere, dass die Liste „ungültig“ sei, so seine Nachbemerkung: „Ich bin nicht in der Lage, auch nur eines der genannten Daten zurückzuziehen und muss daher riskieren, dass die Liste als ‚ungültig‘ angesehen wird.“
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Gerald Stourzh’ Wertung.

Privat
Emmerich Talos
Universität Wien, emeritiert
Emmerich Talos war von 1983 bis 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien. 2013 erschien sein jüngstes Buch „Das austrofaschistische Herrschaftssystem Österreich 1933 - 1938“, 2006 war er Mitherausgeber von „Politik in Österreich. Ein Handbuch“.
Für Talos gehen die Hauptdaten der Weltgeschichte mit dem Jahr 1917 und der Oktoberrevolution in Russland los, bei Österreich mit der Ausrufung der Republik.
Mehr zu seiner Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Emmerich Talos’ Wertung.

Heribert Corn
Heidemarie Uhl
Akademie der Wissenschaften
Heidemarie Uhl ist Dozentin für Zeitgeschichte und arbeitet als Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. 2012 erschien ihr jüngstes Buch „Transformationen des österreichischen Gedächtnisses. Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust in der Erinnerungskultur der Zweiten Republik“.
Uhl stellt ihre Bewertung der historischen Ereignisse in den Kontext umfangreicher Vor- und Nachbemerkungen, erinnert dabei auch an die Probleme, die ihr bekannter Schweizer Kollege Philipp Sarasin bei der Bewertung der Daten hatte. "Die Vorstellung eines Kanons der bedeutendsten historischen Daten steht nachgerade in Antithese zum Selbstverständnis einer Geschichtswissenschaft nach dem „cultural turn", die davon ausgeht, dass es keine allgemeingültige Geschichtsdarstellung gibt“, so Uhl.
Nur Perspektiven auf die Vergangenheit sind möglich, die in jeweils unterschiedlichen Zeit-, Raum- und Gesellschaftskontexten positioniert sind.
Mehr zu ihrer Top-Ten-Weltgeschichte und den wichtigsten Daten Österreichs der letzten 100 Jahre in Heidemarie Uhls Wertung - unter Berücksichtigung eines besonders ausführlichen Vor- und Nachwortes.