Themenüberblick

„Werk übers sehr traurige 20. Jahrhundert“

Der australische Dirigent und Musikwissenschaftler Paul Kildea hat eine umfassende Biografie über Benjamin Britten geschrieben. Für ihn bleiben Brillanz, Vielfalt und Perfektion des führenden britischen Komponisten, Dirigenten und Pianisten unübertroffen. „Britten strebte immer nach dem höchsten Standard“, sagte Kildea in einem dpa-Interview.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Hat das Gedenkjahr für Benjamin Britten zu einer Neueinschätzung seines Schaffens geführt?

Kildea: Ich glaube, ganz sicher. Die Engländer waren bisher zu sehr damit beschäftigt, Brittens Bedeutung als Komponist zu bewerten - und sie haben dabei den Inhalt seiner Musik übersehen. Das lag zum Teil daran, dass es im 19. Jahrhundert in England kaum eine interessante Komponistentradition gab. Das Gedenkjahr hat bewirkt, dass viele Leute sich intensiver mit dem Werk Brittens befasst haben - über seinen Status als Komponist hinaus.

Sie beschreiben Benjamin Britten in Ihrem Buch als einen britischen Komponisten internationaler Musik. Klare nationale Merkmale fehlen bei ihm.

Kildea: Von einem sehr frühen Alter an stand Britten den europäischen Vorstellungen von Musik und Komposition näher als dem, was England zu bieten hatte. Und als er 1934 zum ersten Mal den Wiener Philharmonikern begegnet und echten Operngesang hört, wird sein Instinkt bestätigt. Danach versuchte er, fast so wie ein kontinentaleuropäischer Komponist zu leben und das in England vor dem Krieg übliche Amateurdasein abzuschütteln.

Britten wurde schon als Teenager bei Frank Bridge mit modernistischen Ideen von Musik konfrontiert. Es folgte die sehr traditionelle Ausbildung am Royal College of Music. Aber ich glaube, Britten fand erst in den USA seinen Schwung als Komponist. Das lag daran, dass Amerika damals „deutscher“ war als England vor dem Krieg. Das hat zum Teil mit der Immigration des 19. Jahrhunderts zu tun, aber auch mit der Emigration brillanter Musiker nach der Machtergreifung der Nazis 1933. Britten steckte da mitten drin - auch das hat seine Ideen stark beeinflusst.

Sie haben gesagt, Britten war ein Wagner, ein Mahler, ein Richard Strauss. Was meinen Sie damit?

Kildea: Ich meine die Vorstellung, dass ein Komponist Herr seines eigenen Produkts sein will, sein eigenes Opernhaus und sein eigenes Festival haben will. Dafür gab es in England keine Parallele. Außer Bridge hatten fast alle Komponisten Anbindungen an Institutionen oder an die akademische Welt. Brittens Reisen zu den großen europäischen Musikfestivals führten direkt zu seiner Entscheidung, das Aldeburgh Festival zu gründen - was er 1948 tat.

Zuweilen hat es den Anschein, dass Britten im Ausland beliebter ist als in seiner Heimat. Deutschland ist heute der zweitgrößte Markt für Brittens Werke. Hat das etwas mit diesem Hintergrund zu tun?

Kildea: Ja, es ist teilweise deswegen, aber auch, weil Britten Pianist, Lieder-Begleiter war. Er war tief in der Lieder-Tradition verwurzelt. Diese Kultur war in Deutschland und Österreich zu Hause. Er schuf seine eigene Lieder-Kultur, die sich mit den Größen des 19. Jahrhunderts messen konnte. Britten konnte in diese wesentlich europäische Kultur hineinschlüpfen, und dafür war er beliebt. Britten hat einmal gesagt, er würde die in England geltenden Maßstäbe der musikalischen Aufführung niemals akzeptieren. Und wenn Sie seine Werke hören, wissen Sie, er strebte immer nach den höchsten Standards.

Literaturhinweis:

Paul Kildea: Benjamin Britten. A Life in the Twentieth Century. Penguin Books Ltd. 608 Seiten, 40,99 Euro (Englisch)

Britten hat das „War Requiem“ einmal als eine Art Wiedergutmachung an den Deutschen bezeichnet. Was bewegte ihn zu seiner Komposition?

Kildea: Britten war der Ansicht, dass beide Seiten in diesem Krieg gelitten haben. Er hasste die nationalistische Berichterstattung und verurteilte die Bombardierung deutscher Städte. Und dann kam Hiroshima. Das „War Requiem“ entstand aus seiner Verabscheuung des Krieges - und dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Britten trug sich während der gesamten 1950er Jahre mit dem Gedanken, eine Kantate zu schreiben. Am Ende der Dekade entschied er, dass der richtige Moment gekommen ist, ein großes Werk über das, wie er sagte, sehr traurige 20. Jahrhundert zu schreiben.

Links: