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Ein unaufhaltsamer Aufstieg

100 Jahre nach seiner Geburt gehört der britische Komponist Benjamin Britten zum Kanon der Musik des 20. Jahrhunderts. Mit seiner Oper „Peter Grimes“ wurde er als britischer Nationalheld gefeiert, ein Status, den er mit dem Antikriegsoratorium „War Requiem“ noch zementierte. So imponierend diese Karriere erscheint, absehbar war sie nicht.

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Lange war sich die Musikwelt nicht darüber einig, welchen Rang Britten einnehmen sollte. Die Gründe dafür liegen nicht etwa in einer mangelnden Qualität seiner Kompositionen, vielmehr scheinen diese historisch zu spät dran zu sein, bemerkt der Musikwissenschaftler Martin Hufner. Als Britten sein „War Requiem“ schrieb, war Arnold Schönberg (1874 bis 1951) schon über zehn Jahre tot. Und obwohl Brittens Werk erheblich jünger ist als die Stücke Schönbergs, klingt es auf den ersten Blick keineswegs „moderner“.

Benjamin Britten

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Britten verfolgt in der Oper Berlin die Aufführung seines „War Requiem“ 1962

Abseits der Moderne

In der Tat liegt Brittens Musiksprache, die im Wesentlichen der Tonalität verbunden bleibt, weit abseits der Moderne. Diese hatte sich dem selbst auferlegten Imperativ unterworfen, dass Musik per definitionem stets etwas Neues bringen und in Schönbergs Windschatten alternativlos eine Entwicklung nehmen sollte - von der Chromatisierung und schließlich Auflösung der Tonalität über die freie Atonalität, die Zwölftonmusik, die serielle Musik bis hin zur experimentellen Zufallsmusik eines John Cage (1912 bis 1992), eines Zeitgenossen Brittens.

Zudem gab der Philosoph Theodor W. Adorno mit seiner „Philosophie der neuen Musik“ die Richtung vor: In seinen Augen kamen Komponisten, die schließlich Mitglieder der Gesellschaft waren, nicht umhin, sich in ihrer Musik mit den gesellschaftlichen Spannungen auseinanderzusetzen. Und aus einer zunehmend komplexen Gesellschaft müsse zwangsläufig eine zunehmend komplexe Musik hervorgehen. Moderne Musik solle schwierig sein und auf Widerstand stoßen, nur so könne sie authentisch bleiben und ihre moralische Kraft entfalten.

„Geschmack am Ungeschmack“

Umso mehr galt das laut Adorno nach Auschwitz. Nun sei erst recht keine Tonalität und keine Schönheit mehr möglich, würden diese doch beschwichtigen, die „Barbarei“ banalisieren und mit Kitsch übertünchen. Entsprechend hart ging Adorno mit Britten ins Gericht und lastete ihm „Geschmack am Ungeschmack, Simplizität aus Unbildung, Unreife, die sich abgeklärt dünkt, und Mangel an technischer Verfügung“ an.

Aufführung von "Grimes on the Beach" in Aldeburgh

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Aufführung von „Peter Grimes“ am Strand von Aldeburgh im Juni 2013

Brittens tonale Orientierung und Vorliebe für klassische Formen stießen auf Ablehnung und Verachtung unter den Ideologen der Nachkriegsära und brachten ihm den Vorwurf eines reaktionären Eklektizismus ein. Bei einer Begegnung 1959 verweigerte ihm Komponistenkollege Luigi Nono (1924 bis 1990) gar den Handschlag. Dabei übersah die damalige Avantgarde, wie groß die Kluft zwischen ihr und dem Publikum wurde, das nicht mehr Schritt halten konnte und sich zunehmend ab- und einer Musik zuwandte, wie sie ein Britten bot - frei von selbstverordneter Reglementierung und kompromissloser Ästhetik.

Britten bediente sich bei Richard Wagner (1813 bis 1883), Gustav Mahler (1860 bis 1911) und Richard Strauss (1864 bis 1949), integrierte Volkslieder und die Musik Ostasiens, setzte aber auch - freilich sparsam - die meisten Kompositionstechniken der Neuen Musik ein. Aus einfachen Harmonien mit Dissonanzen nur gesprenkelt, raffiniert vermittelt auf der Ebene der Melodik, die sich immer wieder neu erfindet, entwickelte Britten seinen einzigartigen, unverkennbaren Stil.

Der britische „Nabucco“

„Die Musik hält genau das Gleichgewicht zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen Abbildung und Seelenklang“, umreißt der Musikwissenschaftler Alex Ross Brittens Stil. Ein Nerv des Publikums war damit getroffen. Zu Brittens Erfolg trugen auch die mythischen Themen seiner Liederzyklen und Opern bei. Stets ging es darin um den ewigen Konflikt zwischen Dionysischem und Apollinischem, Verführung und Verzicht, Schuld und Unschuld, dem Einzelnen und den Anderen.

Das Red House

BBC

Brittens „Red House“ in Aldeburgh

Britten griff dabei auf literarische Vorlagen zurück, die von der römischen Tragödie („The Rape of Lucretia“) über William Shakespeare („ A Midsummer Night’s Dream“) bis hin zu Henry James („The Turn of the Screw“) und Thomas Mann („Death in Venice“) reichen. Er vertonte u. a. Gedichte von Arthur Rimbaud, Friedrich Hölderlin und Wystan H. Auden.

Bereits seine erste Oper „Peter Grimes“ feierte 1945 einen spektakulären Erflog und wurde in den Rang einer „nationalen Volksoper“ - wie etwa Giuseppe Verdis „Nabucco“ für Italien - gehoben, schreibt die britische Tageszeitung „The Guardian“. Londoner Busfahrer riefen Haltestellen nach „Peter Grimes“-Szenen aus, das Konterfei des Komponisten zierte das Titelblatt des „Time“-Magazins, sein „Red House“, in dem er mit dem Tenor Peter Pears zusammenlebte, wurde postum zum Museum.

Benjamin Britten und Peter Pears in Venedig im Jahr 1954

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Britten (r.) mit seinem Lebensgefährten Pears 1954 in Venedig

„Nicht ins Leere" geschrieben

Ebenso erfolgreich war Brittens Antikriegsoratorium „War Requiem“ aus dem Jahr 1962. Es verschränkte das Persönliche - Britten war kompromissloser Pazifist, was ihm auch den Vorwurf des Kriegsverweigerers eintrug - mit dem Politischen, das Weltliche mit dem Heiligen. Er wolle „nicht ins Leere schreiben“, bekannte Benjamin Britten und fügte erklärend hinzu: „Fast jedes Stück, das ich geschrieben habe, entstand für eine bestimmte Gelegenheit und meistens auch für bestimmte Musiker.“

Neben Vokalwerken umfassen Brittens Kompositionen zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke. Oft sind sie auf konkrete Interpreten zugeschnitten, seinen Lebensgefährten Pears, die Sopranistin Sophie Wyss oder den einhändigen Pianisten Paul Wittgenstein, für den er ein eigenes Klavierkonzert für die linke Hand schrieb. Britten scheute auch nicht davor zurück, „Gebrauchsmusik“ für Film, Radio und Fernsehen zu komponieren.

Eine Art Anti-Bayreuth

Für ihn bedeutete gesellschaftliches Engagement, innerhalb bestehender Institutionen zu arbeiten - auch innerhalb der BBC - sowie neue Institutionen zu schaffen, wie 1948 das Festival in Brittens Heimatstadt Aldeburgh, für das er zahlreiche Werke eigens komponierte, aber auch Werke der Gegenwart und Vergangenheit zur Aufführung brachte. Als eine Art Anti-Bayreuth bildet es bis heute ein Gegengewicht zum abnehmenden Interesse an zeitgenössischen Komponisten. „Ich möchte, dass meine Musik den Menschen nützt, dass sie ihnen gefällt ... ich schreibe nicht für die Nachwelt“, erklärte Britten.

Britten-Schwerpunkt in Ö1

Zum 100. Geburtstag würdigt Ö1 Britten am Freitag um 19.30 Uhr mit der Sendung „100 Great Britten“, am Samstag um 19.30 mit der Liveübertragung von „Peter Grimes“ aus der Wiener Staatsoper und von 25. bis 28. November in einem „Radiokolleg“ jeweils um 9.45 Uhr. Eine Aufzeichnung von „Gloriana“ steht am 21. Dezember um 19.30 Uhr, „Best of EBU Christmas Day“ am 24. Dezember um 19.30 Uhr auf dem Ö1-Programm.

„Anything goes“

Wenige Monate vor seinem Tod ernannte Queen Elizabeth II. Britten zum Lord, am 4. Dezember 1976 starb er in seinem Haus in Aldeburgh. Seit sich die Ideologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelockert oder gar als Sackgasse erwiesen haben, überzeugt er auch die Nachwelt. Mit dem postmodernen „Anything goes“ erscheint es heute legitim, den Blick zurück zu werfen und mit Mitteln der Tradition einen Sonderweg einzuschlagen. An Britten lässt sich beispielhaft ablesen, dass sich die Musikgeschichte eben nicht linear erzählen lässt.

Armin Sattler, ORF.at

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