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„Von Mitbürgern aktiv mitgetragen“

Nachdem die Weichen für die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung bereits mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 gestellt worden waren, erlebte die NS-„Judenpolitik“ 1938 und somit vor 75 Jahren mit den Novemberpogromen ihren nächsten traurigen Höhepunkt.

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Am Anfang der folgenschweren Ereignisse standen die Schüsse auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath in Paris, abgefeuert am 7. November von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan, dessen Eltern von den Nazis nach Polen abgeschoben worden waren. Schon die Nachricht des Attentats löste erste Übergriffe aus. Als Vom Rath zwei Tage später für tot erklärt wurde, sahen die Nazis schließlich den Zeitpunkt gekommen, ein von langer Hand geplantes Pogrom in die Tat umzusetzen.

Ausschnitt des Titelblattes der Zeitung "Völkischer Beobachter" vom 13. November 1938

DÖW

Der Mordanschlag von Paris war für die Nazis der willkommene Anlass für ihre „Abrechnung mit den Juden“

Am 9. und 10 November kam es im gesamten Deutschen Reich zu schweren Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung. Über 1.000 Synagogen wurden ein Raub der Flammen. Zahllose Geschäfte und Wohnungen, sofern diese nicht bereits zuvor im Rahmen der seit dem Frühjahr laufenden „Arisierungen“ zwangsenteignet worden waren, wurden gestürmt, verwüstet und beschlagnahmt. Neben Misshandlungen, Demütigungen und Verhaftungen gab es auch zahlreiche Morde an Juden - genaue Zahlen gibt es nach Angaben des vom Bundesministerium initiierten Webportals Erinnern.at bis heute nicht. Zehntausende Juden wurden in Konzentrationslager gebracht.

Innsbruck war laut dem Tiroler Zeithistoriker Niko Hofinger der blutigste Schauplatz. Gemessen an der Anzahl der jüdischen Bevölkerung seien in keiner anderen Stadt des deutschen Reiches so viele Menschen umgebracht worden - mehr dazu in oesterreich.ORF.at.

„Ruchlose Tat von Paris“

Von den Nazis wurden die Ereignisse als Reaktion auf den Mordanschlag von Paris gerechtfertigt. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, von dem auch der Begriff „Reichskristallnacht“ stammt, sprach von einem „spontanen Ausbruch des Volkszorns“. Laut Eldon Walli, der für den nationalsozialistischen Rundfunk live aus Wien berichtete, habe es sich die „erbitterte arische“ Bevölkerung nach „dieser ruchlosen Tat von Paris“ nicht nehmen lassen, „um auch hier ihren abgrundtiefen Hass gegen das Judentum zu bezeigen“.

Zur Deportation gezwungene Juden beim Aufladen ihrer Gepäckstücke

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Zur Deportation gezwungene Juden beim Aufladen ihrer Gepäckstücke

Allein in Wien wurden neben Tausenden Wohnungen und Geschäften 42 Synagogen und Bethäuser in Brand gesteckt und verwüstet. Dazu kommen zahlreiche Übergriffe in den Bundesländern. Laut Erinnern.at wurden die Pogrome vom größten Teil der nichtjüdischen Mitbürger „nicht nur widerstandslos zur Kenntnis genommen, sondern von vielen aktiv mitgetragen“. Vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) wurde zudem daran erinnert, dass rund um die Morde der Novemberpogrome nach 1945 „kein einziges Gerichtsverfahren geführt“ worden sei.

„Judenverfolgung massiv beschleunigt“

Das Ausland reagierte mit zahlreichen Protestnoten auf die Ereignisse in Nazi-Deutschland. Von den USA wurde am 14. November der Botschafter aus Berlin abgezogen. Unternehmen vieler Länder kündigten ihre Handelsverträge mit Deutschland. Ein Ende der Judenverfolgung konnte dadurch allerdings nicht erreicht werden - ganz im Gegenteil werden die Novemberpogrome von vielen Historikern als Beginn des Holocaust, der gezielten Auslöschung der jüdischen Bevölkerung, gesehen.

Buchhinweis

Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht. Wallstein Verlag, 192 Seiten, 20,50 Euro.

Bereits 1939 sprach der Journalist Konrad Heiden in seinem nun erstmals auf Deutsch („Eine Nacht im November 1938“) erschienenen Buch „The New Inquisition“ von einem „Zivilisationsbruch“. Es handelt sich um einen der frühesten Versuche, die Bedeutung der Eskalation der NS-Gewalt mit Blick auf die Judenverfolgung zu deuten.

Geht es nach dem Leiter des Zentrums für Holocauststudien in München, Frank Bajohr, steht außer Frage, dass durch die Novemberpogrome „die Judenverfolgung massiv beschleunigt“ wurde. Die Weichen für Vernichtung und systematische „Arisierung“ wurden seit 1933 gestellt - durch Gesetze ebenso wie durch die Propaganda, die Juden als böse und minderwertig brandmarkte. Bajohr verwies aber auch darauf, dass Pogrome schon vor dem 9. November 1938 weit verbreitet waren. So hatte es etwa in Wien bereits im Frühjahr 1938 Übergriffe gegeben. Wien war auch Schauplatz der als „Reibpartie“ bezeichneten Demütigungen, bei denen Juden gezwungen wurden, die Straße von politischen Parolen zu säubern.

Juden, die gezwungen wurden, die Straße von politischen Parolen zu säubern

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Juden wurden in Wien bei „Reibpartien“ gedemütigt

Vom Rath von Nazis geopfert?

Viele Abläufe vom 9./10. November 1938 sind bis heute unklar. Der Journalist und Buchautor Armin Fuhrer stellte zuletzt etwa in den Raum, dass der deutsche Diplomat Vom Rath von den Nazis geopfert wurde, um einen Märtyrer zu haben. „Der Verdacht liegt nahe, dass Hitler seinem Leibarzt den Befehl gab, Vom Rath sterben zu lassen und nach außen hin so zu tun, als habe man ihn nicht retten können“, schreibt Fuhrer in seiner kürzlich erschienenen Biografie „Herschel“.

„1938 brodelte es in der NSDAP, weil viele einfache Parteimitglieder und SA-Leute endlich gegen die Juden losschlagen wollten“, lautet seine Begründung. „Goebbels und Hitler wussten, dass sie auf den Unmut reagieren mussten, da war dieses Attentat ein Geschenk des Himmels.“ Eine These, mit der sich viele Historiker allerdings nicht anfreunden können, weil sie ihnen zu ungesichert erscheint. Wie es wirklich war, spielt nach Ansicht vieler auch kaum eine Rolle: Die Pogrome wären ohnehin gekommen.

„Von nun an geht es erst richtig los“

Der Regisseur und Journalist Georg Stefan Troller, der die Novemberpogrome in Wien als Jugendlicher miterlebte, sprach gegenüber dem ZDF von einem „Warnschuss für die Juden“: „Wir wussten, von nun an geht es erst richtig los.“ Das Leben der Juden war aber schon zuvor gekennzeichnet von staatlicher Willkür und beständiger Angst, wie auch ein Tagebucheintrag des deutschen Romanisten Victor Klemperer vom 2. Oktober 1938 zeigt: „Ich glaubte: Heute Abend der Krieg. Vielleicht unser Tod in einem Pogrom.“

TV-Hinweis

Der ORF widmet sich mit einem umfassenden Programmschwerpunkt der Ereignisse um den 9./10. November 1938 - mehr dazu in programm.ORF.at.

Auch für Charlotte Knobloch war der 9. November nur eine Steigerung der Ausgrenzung, die sie ohnehin tagtäglich als Kind erlebte. „Die sogenannte Reichskristallnacht hat mich mit der Wucht ihrer Ereignisse nicht überrascht“, berichtet sie und fügte hinzu: „Die gesamte, enorme Dimension, die beinahe vollständige Vernichtung des europäischen Judentums - das habe ich allerdings erst nach der Befreiung 1945 erkannt.“

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