Spirale der Gewalt verstärkt sich
Der Irak kommt aus der Welle der Gewalt nicht heraus. Die Lage wird zunehmend von Anschlägen und Attentaten dominiert. Dutzende Tote sind wöchentlich zu beklagen. Und die Regierung sieht mehr oder weniger hilflos zu. Schuld daran sind politische Querelen und Grabenkämpfe, die ein geschlossenes Vorgehen gegen die Terroranschläge offenbar unmöglich machen.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Denn zu unterschiedlich sind die Interessen der politischen Gruppierungen, um den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten einzudämmen. Vielmehr spielt die Situation den Extremisten auf beiden Seiten in die Hände. Der Terror verselbstständigt sich. Die Gewalt wird zunehmend zu einem „Selbstläufer“. Auf Anschläge folgen Gegenanschläge.

AP/Emad Matti
Eine Straße in Kirkuk nach einem Anschlag
Die Folgen für die Zukunft des Landes sind nicht vorhersehbar. Von Normalität ist man auch mehr als zwei Jahre nach dem US-Abzug weit entfernt. Experten sehen die Aussichten düster, sollte nicht bald die Notbremse gezogen werden.
Politik instrumentalisiert Anschläge
Und hier liegt der Ball bei der Politik. Sie muss versuchen, einen Ausgleich unter den islamischen Glaubensrichtungen zu finden, sonst droht eine weitere Radikalisierung, sind sich Experten einig. Doch regierungsintern werden die Anschläge instrumentalisiert und gegen unliebsame Konkurrenten verwendet.
So etwa nutzte der schiitische Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki zu Beginn des Jahres die Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen sunnitischen Finanzminister Rafi al-Iwassi, um diesen kaltzustellen. Er verdächtigte Iwassi der Zusammenarbeit mit dem sunnitischen Terrornetzwerk Al-Kaida. Der Minister reichte aufgrund des Drucks den Rücktritt ein.
Höhepunkt des Konflikts prägt jetziges Verhalten
Den Hintergrund dieser politischen Reflexe und des gegenseitigen Misstrauens bildet die konfessionelle Gewalt, die zwischen den Jahren 2006 und 2008 ihren bisher heftigsten Ausbruch erlebte, wie die Zeitung „Le Monde diplomatique“ schreibt.

Reuters/Haider Ala
Trauer nach einem Anschlag
Die Entwicklungen der letzten Monate nähern sich diesem Zustand allerdings immer stärker an. Experten machen die Unzufriedenheit der sunnitischen Minderheit mit der mehrheitlich schiitischen Regierung Malikis für den Anstieg der Gewaltakte in diesem Jahr verantwortlich. Die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten nahmen seit Beginn des Jahres wieder zu.
Blutigste Monate seit 2008
Der nun ausgeschiedene Leiter der UNO-Mission im Irak, Martin Kobler, sprach in seinem jüngsten Bericht vor dem Weltsicherheitsrat von einer besorgniserregenden Lage. Allein im Juli kamen laut Angaben der Vereinten Nationen mehr als tausend Menschen gewaltsam ums Leben. Zuletzt hatte es derartig hohe Zahlen im Jahr 2008 gegeben.
Allein bis Mitte Juli starben rund 500 Menschen in dem Konflikt. Damit wächst die Sorge vor einer Rückkehr zu den Zuständen der Jahre 2006 und 2007, als einander militante Angehörige der beiden islamischen Glaubensrichtungen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung bekämpften.
Al-Kaida im Aufwind
Vor allem das Terrornetzwerk Al-Kaida befindet sich wieder im Aufwind. Alle Erfolge seit 2007 beim Versuch, das Netzwerk zu marginalisieren, seien seit dem US-Abzug 2011 wieder zunichtegemacht worden, so Experten. Der gesamte bisherige Erfolg sei in Gefahr, so Aymenn al-Tamimi, Experte für Extremismus im Irak und in Syrien des Middle East Forum in Philadelphia.
Vor allem der jüngste Gefängnisausbruch, bei dem je nach Quelle zwischen 500 und 1.000 Gefangene, darunter auch zahlreiche Al-Kaida-Mitglieder unter anderem aus dem berüchtigten Gefängnis Abu Ghoraib, geflohen sein sollen, habe dem Terrornetzwerk wieder Auftrieb gegeben, so Tamimi zur „Washington Post“. Das sei ein Meilenstein für das Wiedererstarken der Al-Kaida im Irak. „Ein guter Teil des Fortschritts gegen die Islamisten seit 2006 ist damit wieder zunichtegemacht worden“, so Tamimi.
Die Entwicklung ist allerdings nicht auf den Irak begrenzt. Der Erfolg helfe auch der Al-Kaida in Syrien, wo sie sich die Organisation rasch verbreite, so Charles Lister von der in London ansässigen Politberatung IHS Jane’s Defence. Man solle die Stärkung der Moral durch einen derartigen Coup nicht vergessen.
Lage bald außer Kontrolle?
Die UNO warnt angesichts der anhaltenden Gewalt bereits vor einem Bürgerkrieg und stellten der Regierung die Rute ins Fenster. „Der Irak steht am Scheideweg“, so der Leiter der UNO-Menschenrechtsmission in dem Land am Golf, Franceso Motta, Mitte Juli. Das Land befinde sich nach seiner Einschätzung zwar „noch nicht im Bürgerkrieg“, die Gewaltstatistiken seien aber besorgniserregend.
Der politische Stillstand, die fehlende nationale Vision vieler Politiker und die äußeren Einflüsse von Ländern wie Syrien gefährdeten die Stabilität des Landes, analysierte Motta die Lage. Die Gewalt wird von der Unzufriedenheit der Sunniten mit der schiitischen Regierung und zusätzlich vom Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien angefacht. Viele radikale Gruppen würden dadurch angestachelt, sagte Motta. Je mehr Menschen im Irak getötet würden, desto eher seien Gegenreaktionen zu erwarten und desto größer sei die Gefahr, dass die Lage außer Kontrolle gerate, so Motta.
Gefangen im Ränkespiel
Von Demokratie nach westlichem Vorbild ist man weit entfernt. Auch das sorgt für zusätzliche Frustration in der Bevölkerung. Maliki geriert sich als starker Mann im Irak. Gegner werfen ihm Selbstherrlichkeit und einen autokratischen Führungsstil vor.
Das politische Ränkespiel der Führungsschicht lässt kaum Platz für anstehende politische Reformen. Maliki ist, wie „Le Monde diplomatique“ schreibt, den „zwiespältigen Regeln des politischen Spiels unterworfen, das auf einer ständigen flexiblen Neuverteildung der Ressourcen - und damit der Allianzen - in einem Klima der permanenten Auseinandersetzung beruht“.
Es geht auch ums Geld
Viele politische Fragen sind daher noch offen bzw. werden in absehbarer Zeit überhaupt nicht eindeutig geklärt werden (können). So steht eine Revision der Verteilung des Öls und damit des Geldes an. Das könnte den Druck von wirtschaftlich schwächeren Schichten nehmen, auch politisch für mehr Ruhe sorgen und damit dem schwelenden Extremismus Einhalt gebieten. Die „Ölprofiteure“ lebten in Luxus und frönten ihrem hemmungslosen Konsum, so „Le Monde diplomatique“.
Doch eine klare Linie und Zukunftsperspektiven zeichnen sich nicht ab, wie „Le Monde diplomatique“ schreibt. Im Irak stecke man mittendrin in einer Kette von Ereignissen, deren Ende noch nicht absehbar sei, so die Monatszeitung weiter.
Die Versäumnisse der Vergangenheit
„Le Monde diplomatique“ sieht die Ursache in der Vergangenheit. Die USA hätten den Apparat des alten Systems des Langzeitdiktators Saddam Hussein kriminalisiert und aufgelöst und das politische System auf eine ethisch-konfessionelle Grundlage gestellt. Und das sei der Kardinalfehler gewesen, der den konfessionellen Konflikt, der sich in den letzten Monaten erneut verschärfte, erst ermöglicht habe.
Zusätzlich hätten die USA Politiker aus dem Exil gefördert, die allerdings keinen Kontakt zur Gesellschaft gehabt hätten. Die Verfassung, die „im Hinterzimmer ausverhandelt wurde“, und die darauffolgenden Wahlen hätten dann die Sunniten marginalisiert, so die Monatszeitung.
„Die Iraker werden nur von Gott beschützt“
All das wirkt sich weiter nachhaltig auf das politische Klima aus. Die Unzufriedenheit und die Kritik an den Sicherheitskräften ist ob der anhaltenden Gewaltwelle groß. Vonseiten der Regierung und der politischen Elite werden die Anschläge so gut wie nie kommentiert, so „Le Monde diplomatique“.
„Die Iraker werden nur von Gott beschützt, die Politiker kümmern sich nur um ihre Position und ihre eigenen Interessen“, kommentiert die „Khaleej-Times“ die Lage im Irak aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Links: