„Gutes Omen für ein langes Leben“
Eine der hervorstechendsten Eigenschaften, über die der im Mai verstorbene ehemalige italienische Regierungschef Giulio Andreotti verfügte, war sein Zynismus. Der zeigte sich auch, als er, von Alter und Gram längst tief gebeugt, wegen angeblicher Anstiftung zur Ermordung eines Journalisten verurteilt wurde.
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„Dass mir die Richter 24 Jahre Haft geben, kann ich nur als gutes Omen für ein langes Leben werten“, höhnte der „Fuchs“, damals immerhin 83 Jahre alt. Kauzig und hintersinnig auch ein anderes Andreotti zugeschriebenes Bonmot: „Die Macht reibt nur den auf, der sie nicht hat.“ Andreotti musste es wissen: Siebenmal war er in Rom Ministerpräsident, 33-mal Minister.
Wangenkuss mit „Boss der Bosse“?
Kaum ein anderer Akteur in der westeuropäischen Nachkriegspolitik stieg so hoch und stürzte so tief wie der Christdemokrat Andreotti. Nach dem Fall der italienischen „Schmiergeldrepublik“ Anfang der 90er musste er gleich zweimal vor Gericht. Noch schlimmer als der Mordprozess war ein Verfahren wegen Mafia-Verstrickungen in Palermo. Was Mafia-Bosse dort auspackten, klang ungeheuerlich: Andreotti soll mit „Paten“ verkehrt haben, dem „Boss der Bosse“ gar als Zeichen seiner Ehrerbietung einen Wangenkuss gegeben haben.
„Leichenschauhaus der Demokratie“ nannte das ein Staatsanwalt. Andreotti fühlte sich „vorgeführt“. In einer schwachen Stunde gestand der Beschuldigte, dass er unter Alpträumen leide. Sein Zynismus wurde bitter: „Nur gut, dass wir keine Todesstrafe haben.“
Der fromme Lehrersohn aus Rom wurde damals zum Sinnbild von Machthunger und machiavellistischer Skrupellosigkeit. Doch seltsam: Trotz allem blieb Andreotti in der italienischen Öffentlichkeit präsent, auch als er vor Gericht stand, nahm er an Talkshows teil, blieb Senator und veröffentlichte eine katholische Zeitschrift. Im Vatikan ging er ohnehin ein und aus. Nur seine Lippen wurden immer schmaler, sein Gang immer gebückter, für Karikaturisten war er zum Beelzebub geworden.
Andreotti wollte „Schlimmeres verhindern“
Andreottis Aufstieg begann im Vatikan. Im Jusstudium spezialisierte sich der junge Mann auf Kirchenrecht, und es war in den Bibliotheken des Vatikans, wo er 1942 seinen politischen Mentor Alcide de Gasperi traf. 1947 wurde er erstmals ins Parlament gewählt, 1954 war er erstmals Minister, er wurde Innenminister, später Finanz-, Verteidigungs- und Außenminister. Wo die Macht war, da war Andreotti. 1972 führte er erstmals eine Regierung.
Höchstes Ziel seiner Politik, sagte er einmal, sei es gewesen, „Schlimmeres zu verhüten“. Unter dem Schlimmsten verstanden die USA damals eine Machtbeteiligung der starken Kommunisten in Italien. Beruhigt gingen die Mächtigen in Washington davon aus, dass man sich auf Andreotti und seine Christdemokraten verlassen konnte. „Doch davon spricht jetzt niemand mehr“, klagte Andreotti nach seinem Fall später einmal.
„Was man wirklich geheim halten will, soll man nicht einmal sich selbst erzählen.“ Das war ein weiteres Bonmot des Meistertaktikers - wohl auch eines der Rezepte seiner Politik. Über die Tiefen und die Abgründe der Macht, die wohl kaum ein anderer besser kennt als Andreotti, passt auch ein anderer Sinnspruch des frommen Machtmenschen: „Schlechtes zu denken ist eine Sünde - aber es trifft meist ins Schwarze.“
Peer Meinert, dpa