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Frage seit mehr als 20 Jahren ungelöst

Der Zerfall der UdSSR ist an vielen Nachfolgestaaten nicht spurlos vorübergegangen. Während die einen mit der Unabhängigkeit nur bedingt zurechtkamen, fanden andere schnell zur eigenen Identität. So auch Estland, das sich durch die eigene Sprache schnell abgrenzte. Doch andere Probleme konnten bis heute nicht gelöst werden, vor allem, was den Umgang mit ethnischen Russen im eigenen Land betrifft.

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Schließlich bestand Estland nach dem Ende des Kommunismus nicht nur aus Esten, hatten sich doch viele ethnische Russen innerhalb der damaligen Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik niedergelassen. So kam es, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele dieser ethnischen Russen im souverän gewordenen Estland blieben - nach Angaben des Innenministeriums waren es damals fast 500.000 Personen.

Gesetz aus dem Jahr 1938

Nach dem Fall der Sowjetunion führte die Republik Estland das Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem Jahr 1938 wieder ein. Esten wurden automatisch alle, die vor der „Besatzung“ 1940 Esten waren bzw. zu dieser Zeit Vorfahren mit estnischem Pass hatten.

Kein Russe, kein Este

Der estnische Staat sah in ihnen die Nachfolger der „Besatzer“, die unter Stalin das Land terrorisiert hatten. Sie bekamen deshalb nach 1991 meist nicht automatisch die estnische Staatsbürgerschaft. Nur wer einen Sprach- und Verfassungstest ablegte, erhielt den estnischen Pass. Wer das nicht wollte oder nicht konnte, blieb „Nichtbürger“ und erhielt einen grauen „Alien“-Reisepass - oder er beantragte einen russischen Pass.

Russischer Grenzübergang zu Estland in Narwa

Reuters/Ints Kalnins

Die Grenze zu Russland in nordestnischen Narwa - mit dem grauen „Alien“-Pass visumfrei passierbar. In dieser Region leben die meisten „Nicht-Staatsbürger“.

Argumente gegen eine Staatsbürgerschaft

Jährlich werden es seitdem zwar infolge von Einbürgerungen stets weniger, doch von einer Lösung des Problems ist Estland weit entfernt. Im Grunde sprechen für die staatenlosen ethnischen Russen zwei Dinge gegen den Antrag auf die estnische Staatsbürgerschaft. Zum einen wäre ihre Reisefreiheit nach Russland beschränkt, über die sie aufgrund einer Sonderregelung mit Moskau auch ohne Antrag auf Visum verfügen - zum anderen fühlen sie sich weiterhin nicht als Esten und verzichten aus Gründen der Identität auf eine Einbürgerung.

Estland der Esten und Russen

Estland hat knapp 1,3 Millionen Einwohner, 68,7 Prozent bezeichnen sich selbst als Esten, 24,8 Prozent als Russen (Zensus 2012). Dabei spielt es keine Rolle, ob sie einen estnischen, russischen oder einen grauen „Alien“-Pass besitzen. Allerdings zeigt sich, dass sich immer mehr Russischsprachige als Esten fühlen.

Zum anderen sind die Hürden auf dem Weg zu einem estnischen Pass sehr hoch. Sehr gute Estnischkenntnisse sind Voraussetzung, was gerade ältere Russischsprachige von einem Antrag abhält. Außerdem ist die Kluft zwischen Esten und ethnischen Russen unübersehbar, was den Drang, sich als Este deklarieren zu wollen, zusätzlich beschränkt. Das estnische Innenministerium nimmt dazu eine klare Position ein und sieht gegenüber ORF.at ausschließlich „mangelnde Motivation“ als Grund, sich nicht um einen estnischen Pass zu bemühen.

Gesellschaft mit beschränkten Rechten

Doch in der Realität erscheint das zu kurz gegriffen: Der Kontakt der russischen Minderheit zu Esten ist begrenzt. Zudem breitet sich in Estland seit Jahren offene „Russophobie“ aus - politisch vielfach durch Verbalprovokationen gegenüber Moskau gefördert. Auch durch das Gefühl der Russischsprachigen, nicht dazuzugehören, bleibt der Grad der Integration in die Gesellschaft begrenzt. Die politische Mitbestimmung endet bei Regionalwahlen, das Interesse an gesellschaftlichen Fragen ist entsprechend geringer als bei estnischen Staatsbürgern.

Staatenlose sind von bestimmten Berufen ausgeschlossen, so ist es ihnen nicht möglich, als Beamte, Polizisten oder Notare zu arbeiten. Als Amtssprache ist lediglich Estnisch zugelassen - Formulare sind ausschließlich in Estnisch verfasst. Das estnische Bildungsministerium betreibt sogar eine Spracheninspektion, die das Einhalten der Vorschriften zur Nutzung der estnischen Sprache durch Beamte sowie in den Bereichen Dienstleistungen, Handel und Gesundheitswesen beaufsichtigt. Amnesty International kritisierte das Sprachinspektorat bereits vor Jahren für seine „repressive“ Politik.

Nationales Integrationsprogramm

Eine wichtige Rolle nimmt in Estland das Zentrum für politische Studien (Praxis) ein, das zusammen mit anderen Experten regelmäßig Studien über die Integration in Estland durchführt. Die Erkenntnisse des aktuellen Berichts bilden die Grundlage für das Nationale Integrationsprogramm (2014 bis 2020).

Kluft zwischen Ethnien

Diese Umstände fördern die Entstehung einer regelrechten Parallelgesellschaft, schließlich sind jene, die kein Estnisch sprechen, von großen Teilen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen bzw. können keine höheren Positionen erreichen. Besonders drastisch ist das bei jenen, die wenig bis keinen Kontakt zu Esten haben, das betrifft vor allem die ältere Generation der Russischsprachigen. Besser vernetzt sind lediglich jene, die als russischsprachige Elite in urbanem Gebiet (in und um die Hauptstadt Tallinn) leben.

Doch das estnische Innenministerium handelt diese Umstände pragmatisch ab: „Estland sieht die Staatenlosen nicht als Problem. Es ist die offizielle Linie, Staatenlose anzuregen, sich für die estnische Staatsbürgerschaft zu bewerben. Alle Informationen dafür werden bereitgestellt, etwa Sprachkursprogramme mit Kostenersatz“, heißt es aus dem estnischen Innenministerium gegenüber ORF.at. Zusätzlich verweist die Behörde auf zahlreiche Ausnahmen, etwa für Behinderte oder gesundheitlich Eingeschränkte.

Knackpunkt liegt bei Kindern

Das strukturelle Hauptproblem sind die Kinder der Staatenlosen - also jene, die nach 1992 geboren wurden. Der Staat gewährt in diesen Fällen seit 1995 bedingungslos die Erteilung der Staatsbürgerschaft. Doch das Gesetz läuft vielfach ins Leere, kritisieren EU und NGOs, die auf Integrationsberichte verweisen. Die estnischen Behörden verweisen wiederum darauf, dass seit 2008 Eltern stets „Information zur Möglichkeit einer Einbürgerung“ ihres staatenlos auf die Welt gekommenen Kindes erhielten.

Ausstellungshinweis

Die Wiener Galerie IG Bildende Kunst zeigt zurzeit die Ausstellung „Welcome to European Union“. Sie beschäftigt sich mit den lokalen Verhandlungen der EU-Außengrenze zwischen Estland und Russland. Die Ausstellung ist bis 3. Mai zu sehen.

Denn Neugeborene erhalten nicht automatisch den estnischen Pass - und die Eltern entscheiden sich oft dagegen. „In unseren Berichten streichen wir besonders heraus, dass das Problem der ‚vererbten‘ Staatenlosigkeit unbedingt angegangen werden muss“, erklärt Praxis-Analystin Mai Uus gegenüber ORF.at.

Für eine Gesetzesänderung hin zum Geburtsortsprinzip (Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden) fehle der „politische Wille“, meint Expertin Uus. Vonseiten der Behörde heißt es entsprechend, dass keine gesetzlichen Änderungen geplant seien.

Appell des Menschenrechtskommissars

Auch seitens des Europarates nimmt der Druck auf Estland hinsichtlich dieses Problems zu. So rief Menschenrechtskommissar Nils Muizniekis kürzlich dazu auf, die Einbürgerung staatenloser Kinder voranzutreiben. Muizniekis appellierte an sein Heimatland Lettland (dort sind 14,1 Prozent der Einwohner Staatenlose) und auch an Estland, den Nachkommen der „Nichtbürger“ automatisch die Staatsbürgerschaft zu gewähren.

Valentin Simettinger, ORF.at

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