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Stimmungsbild aus der „Motor City“

In Detroit hat sich eine Gruppe von Fotografen dem Thema „Stadt erforschen und verstehen“ verschrieben. Ergebnis ist unter anderem das Webprojekt Detroiturbex.com, das auf eindrucksvolle Art und Weise den Wandel der „Motor City“ nach dem Muster vorher und nachher zeigt - wobei der Angelpunkt die schwere Krise der Automobilindustrie ab 2008 ist.

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Mit ORF.at sprach die Gruppe kurz über Idee und Ziele des Projekts, über die größten Probleme einer Stadt, die zu groß für ihre Einwohner geworden ist, und über eine Atmosphäre zwischen Resignation und viel Eigeninitiative.

ORF.at: Wie ist die Idee zu dem Projekt entstanden? Was ist das Ziel?

Detroiturbex.com: Ein Großteil unserer Arbeit nach dem Muster “einst und jetzt” steht unter dem direkten Einfluss von Camilo Jose Vergara (New Yorker Fotograf, bekannt für seine sozialdokumentarischen Arbeiten, Anm.) - allerdings unter einem viel kürzeren Zeithorizont. Es sind Monate oder Jahre anstatt wie bei ihm Jahrzehnte.

Als wir ein und dieselben Orte über die Zeit hin wiederholt besucht hatten, stellten wir fest, dass der Verfall in der Stadt ein unglaubliches Tempo angenommen hatte. Wir begannen dann, immer wieder Fotos aus derselben Perspektive zu schießen, mit dem Ziel zu zeigen, wie schnell dieser Verfall vor sich geht. Bei den Bildern der Cass Tech (die alte, mittlerweile abgerissene Cass Technical High School in Midtown, Detroit, Anm.) ist es etwas anders. Da sind auch Bilder aus der Zeit, als die Schule noch in Betrieb war, darunter. Das war möglich, weil wir Schachteln voll mit Fotos und Negativa in einem Archivraum gefunden und digitalisiert (und später dem Absolventenverein geschenkt, Anm.) haben.

Wir haben so viel Zeit in dem Gebäude verbracht, dass wir nach und nach erkannt haben, wo bestimmte Bilder aufgenommen worden waren. Dann haben wir begonnen, Fotos zu schießen, die zu denen gepasst haben. Das Ziel ist jetzt, zu zeigen, dass dieses „kolossale“ Gebäude einst pulsierend und voller Leben war und das Potenzial gehabt hätte, wieder so zu werden. Da es allerdings mittlerweile abgerissen ist, hat das nun aber mehr mit Erinnerungen zu tun.

ORF.at: Irgendwie scheint sich in Detroit die Geschichte von Aufstieg und Fall zu wiederholen. In den 50er Jahren boomte die „Motor City“, nach der Rezession 1958 folgte eine Krise. In einem Artikel im „Time Magazine“ aus dem Jahr 1961 ist die Rede von Übernahmen in der Autoindustrie und drastischen Entlassungswellen. Der Text könnte beinahe aus der Zeit zwischen 2009 und 2011 stammen. Hatte die letzte Krise etwas Neues, „Spezielles“? Oder ist einfach die beinahe 100-prozentige Abhängigkeit der Stadt von der Automobilindustrie ihr Dauerproblem?

Detroiturbex.com: Viele Städte im Mittleren Westen haben ähnliche derartige Veränderungen in der Industrieproduktion und einen ähnlichen Niedergang erlebt, aber sie konnten besser reagieren, da ihre Industrie breiter aufgestellt war. Detroit ist hier in gewisser Hinsicht speziell, da die De-Industrialisierung auch noch mit einem tiefgreifenden sozialen Wandel zusammenfiel, was viele Menschen dazu gebracht hat, die Stadt zu verlassen. Das ist ein Schneeballeffekt, der bis heute anhält.

Das Neue oder Spezielle an der Krise ist schon das bloße Ausmaß der Probleme. Es gibt einfach zu viele leerstehende Häuser und Gebäude, die der Immobilienmarkt oder die Neuentwicklung der Stadt nicht aufnehmen kann. Wie soll man eine Stadt managen, die für zwei Millionen Menschen ausgelegt ist und heute nur noch 700.000 Einwohner hat?

ORF.at: Auf Eurer Website schreibt Ihr, „Detroit hat keine andere Wahl, als sich zu verändern“. In welche Richtung? Geht es primär um wirtschaftlichen Wandel? Was sind die größten Probleme?

Detroiturbex.com: Wir können nicht mit Sicherheit sagen, in welche Richtung sich die Stadt sozial, wirtschaftlich, kulturell entwickeln wird. Wir werden den Wandel festhalten, wie immer er auch aussieht. Das Hauptproblem ist, dass die städtischen Ressourcen über weite Teile Detroits, wo nur noch sehr wenige Menschen leben, zu dünn gestreut sind. Auch wenn nur noch eine Person in einer Straße lebt, muss man für Polizei, Feuerwehr, Rettungswesen, Wasser, Straßenbau und so weiter sorgen.

Das Beste, was die Stadt mit dem wenigen Steuergeld, das sie bekommt, machen kann, ist, zu versuchen, diese Viertel zu konsolidieren. Sie müsste die Bewohner - auch mit Geld - dazu bewegen, in stabile Viertel zu ziehen und ihnen dort Wohnraum zur Verfügung zu stellen, oder aber es wird ohnehin von selbst passieren, dass die Menschen (aus verlassenen Vierteln) weg- bzw. umziehen.

ORF.at: Noch im Sommer vorletzten Jahres hat sich Detroit - selbst die Innenstadt - teils regelrecht verwaist gezeigt, für eine Großstadt wenige Menschen auf der Straße, Wolkenkratzer dunkel. Wie ist es jetzt?

Detroiturbex.com: In der Innenstadt wird es deutlich besser. Es gab sogar schon Berichte, dass Wohnungen dort wieder knapp werden, weil so viele Menschen zugezogen sind. Einige der wichtigsten leerstehenden Gebäude wie der Broderick Tower (ein 1926 gebautes, 35-stöckiges Wohnhochhaus, Anm.) wurden im letzten Jahr renoviert, um die Nachfrage nach Wohnungen decken zu können. Es gibt wieder mehr Arbeitsplätze in Downtown Detroit, mehr Geschäftsleben, mehr Menschen auf den Straßen.

ORF.at: Es scheint sich in Detroit auch in Sachen Eigeninitiative - Nachbarschaftszentren, private Sicherheitsinitiativen, „We are Detroit“, „I am Young Detroit“ etc. - einiges zu bewegen. Krempeln die Bürger selbst die Ärmel hoch?

Detroiturbex.com: Absolut! Das ist aber gar nicht so neu. Einige Beispiele, die Sie nennen, sind vielleicht schon zehn oder 20 Jahre alt. Aber je schwerer sich die Stadt damit tut, die Grundversorgung aufrechtzuerhalten, desto mehr Menschen nehmen die Sache selbst in die Hand.

ORF.at: Wie ist derzeit die Atmosphäre in der Stadt, die Stimmung der Bewohner? Geht sie eher in Richtung Resignation oder Optimismus?

Detroiturbex.com: Das hängt sehr stark von der Gegend ab. Wir sehen jeden Tag Optimismus, Verzweiflung, Hoffnung und Hass. Einige haben angesichts der Situation schon resigniert, während andere für einen Wandel richtiggehend kämpfen.

ORF.at: Was an Eurem Projekt ist (wie Ihr auf Eurer Website schreibt) „illegal“? Ich nehme an, es geht um das Betreten von privaten Grundstücken bzw. Gebäuden beim Fotografieren?

Detroiturbex.com: Das Betreten, ja. Wir versuchen eigentlich für viele Gebäude, in die wir gehen, eine Erlaubnis einzuholen. Aber das geht nicht immer.

Okay, dann bitte nur eine vage Antwort. Wer seid Ihr eigentlich? Fotografen? Andere Kulturschaffende? Studenten?

Detroiturbex.com: Wir sind Fotografen.

Das Interview führte Georg Krammer, ORF.at

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