Die ewigen Rotzlümmel
Die Rolling Stones haben Songs geschrieben, die in seltener Zeitlosigkeit überdauern. Und sie sind eine der wenigen Bands, die diese Songs auch heute noch - 55 Jahre nach der Bandgründung - vortragen können, ohne peinlich zu wirken.
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Das hat wohl mit den Ursprüngen der Stones zu tun. Es ist kein Zufall, dass Mick Jagger an einem Oktober-Tag im Jahr 1961 Langspielplatten in der Hand hatte, als er auf dem Bahnhof seines Heimatstädtchens Dartford Keith Richards traf, den er noch aus Kindertagen kannte. Die beiden waren knapp 18 Jahre alt und kamen aus unterschiedlichen Milieus - Jagger war ein verwöhnter Mittelstandsknabe, Richards entstammte einer Arbeiterdynastie.
Jagger hielt die Musik in Händen, die sie beide für mehr als 50 Jahre verbinden sollte: Platten von Muddy Waters und Chuck Berry - Blues und Rock ’n’ Roll. In den Texten ging es selten um große Politik, sondern eher um die Revolte im Alltag, gegen Spießigkeit und Unterdrückung. Darauf konnten sich zornige junge Menschen aus allen Schichten einigen - und im Lauf der Jahrzehnte immer wieder neue Generationen. Jagger jedenfalls hatte 1961 mehr Geld als Richards, somit auch mehr Platten - und sogar eine kleine Band: Little Boy Blue and the Blue Boys.

AP/Peter Kemp
Die Stones 1969 vor 250.000 Tausend Fans im Hyde Park beim kostenlosen Tributekonzert an den zwei Tage zuvor verstorbenen Ex-Gitarristen der Band, Brian Jones
Die Geburtsstunde der Stones
Sie nahmen Richards auf, der schon damals virtuos mit der Gitarre verwachsen war. Bald war noch Brian Jones mit von der Partie - und er sollte fortan den Ton angeben. Die Band zog 1962 nach London. Für einen Auftritt, bei dem sie am 12. Juli kurzfristig eine andere Band im Marquee Club vertreten sollten, brauchten sie kurzfristig einen vernünftigen Namen.
„I’m a Rollin’ Stone“
I’m a man / I’m a full grown man / I’m a man / I’m a natural born lovers man / I’m a man child / I’m a rollin’ stone / I’m a man child / I’m a hoochie coochie man
„Mannish Boy“, geschrieben von McKinley Morganfield, Mel London und Ellas McDaniel - erstmals interpretiert von Muddy Waters, 1955
Die Mär sagt, dass sie am Telefon gefragt wurden, wie sie sich nennen wollen. Jones habe spontan auf eine auf dem Boden liegende Muddy-Waters-Platte gezeigt und „The Rolling Stones“ gesagt - „I’m a Rollin’ Stone“ ist eine Textzeile aus dessen Song „Mannish Boy“. Mit dem Auftritt im Marquee Club waren somit die Stones geboren, wie man sie heute noch kennt.
Rasch begann der Hype um die Band. Mick Jagger bewegte sich auf der Bühne, wie es vor ihm noch niemand getan hatte. Seinen vom Schulsport durchtrainierten Körper ließ er kreisen und zucken, und er riss seinen legendären Riesenmund beim Singen auf, soweit er konnte. Den Blues schrie, stöhnte und presste er über weite Strecken eher heraus, als ihn zu singen - seine Singstimme sollte sich erst später entwickeln.
Gnadenloser Manager
Richards war schon damals der Inbegriff an Coolness, mit seiner lässig um die Hüften schlankernden Gitarre und dem abgeklärten Blick. Die ordnende Kraft wurde der erst 19-jährige Musikmanager Andy Oldham. Der „Stern“, dessen Journalisten die Stones jahrelang aus der Nähe begleiteten, zitiert in seiner Jubiläumsnummer Keith Richards mit den Worten: „Wir waren das Dynamit, Andy Oldham der Sprengmeister.“
Oldham wusste schon früh, worum es im Pop ging. Er warf den Pianisten Ian Stwart aus der Band, nur weil ihm dessen hervorstehendes Kinn nicht gefiel. Dabei wäre das locker durch das fliehende Kinn des Drummers Charly Watts kompensiert worden. Der durfte aber bleiben. Mit Songs von Chuck Berry und den befreundeten Beatles kamen die Stones 1963 und 1964 erstmals ins TV und in die Charts, bevor „It’s All Over Now“ ihr erster Nummer-Eins-Hit wurde. 1965 folgt „(I Can’t Get No) Satisfaction“ an der Spitze der Hitparaden.
„A Man of Wealth and Taste“
„Please allow me to introduce myself / I’m a man of wealth and taste / I’ve been around for a long, long year / Stole many a mans soul and faith“
(„Sympathy for the Devil“, 1969, Keith Richards und Mick Jagger)
Das Stones-Feeling
Fortan sollte für eine ganze Generation die wichtigste Frage zur Einordnung in eine popkulturelle Schublade lauten: „Beatles oder Stones?“ Beatles, das waren zuerst die Braveren und dann die Sensibleren, die ordentlich mit den Hippies liebäugelten. Die Stones hingegen waren die bösen Buben, die aggressiven Rotzlümmel. Die Musik der Beatles sprach mehr den Kopf an, die der Stones mehr die Hüften. Die Beatles waren in ihren wilden Jahren LSD, die Stones Koks und vor allem Heroin.
Der deutsche Autor Jörg Fauser war Zeit seines Lebens Stones-Fan. Der jahrelange Junkie beschrieb in seinem autobiografischen Roman „Rohstoff“ ein Gelage mit Stones-Beitrag: Suff, Drogen, Sex, Schlägereien, alles im verdreckten Kellerloch eines Studentenheims irgendwo mitten in Deutschland - und der Soundtrack dazu: Neunmal hintereinander „(I Can’t Get No) Satisfaction“, neunmal „Jumpin’ Jack Flash“ - „wenn du dann noch weißt, wer du bist, dann bist du out of time, denn niemand in dieser Zeit weiß, wer er ist.“

AP/Shizuo Kambayashi
Die Stones, wie man sie kennt: grelle Farben, exaltiertes Auftreten. Hier 2006 in der Saitama Super Arena nördlich von Tokyo
Exzesse, Rekorde, Millionen
Es war selbstverständlich nicht nur die Musik der Stones, die zum Exzess antrieb, es war auch ihr Vorbild. Brian Jones wurde bereits 1969 aus der Band geschmissen, weil er wegen seiner Drogenprobleme nicht mehr fähig war, den Musikeralltag zu meistern - er ertrank wenig später in seinem Swimmingpool. Und Keith Richards Drogensucht ist legendär. Nur Mick Jagger hielt sich vergleichsweise zurück.
Im Laufe der Jahre fand sich jene Besetzung zusammen, in der die Stones trotz aller Streitereien zwischen Jagger und Richards noch heute spielen. Charlie Watts an den Drums, Ron Wood an der Rhythmusgitarre, Keith Richards an der Leadgitarre und Mick Jagger singt und brüllt wie eh und je. Die Stones überdauerten Moden, Jagger wurde von der Queen zum Ritter geschlagen, und die Bandmitglieder sind viele 100 Millionen Euro schwer.
Eisern durchgehalten
Ob die Band ab Mitte der 80er Jahre noch relevante neue Musik veröffentlicht hat, darüber scheiden sich die Geister. Eines haben sie jedenfalls geschafft: Die Gratwanderung, sich weiterzuentwickeln, ohne ihre Ursprünge zu verleugnen oder sich selbst untreu zu werden. Großkotziger Pop und funkiger Stadionrock kamen bei ihnen ähnlich authentisch daher wie Rock ’n’ Roll und Blues.
Es gibt wohl wenige Menschen, von denen man sagen kann, dass sie ein langes Leben lang Sex ’n’ Drugs ’n’ Rock ’n’ Roll glaubwürdig durchgehalten haben. Skandale rund um Frauen gab es bis in jüngste Zeit. Und wäre Keith Richards nicht 2006 von einer Palme heruntergefallen und hätte sich dabei schwer verletzt, würde er wohl auch heute noch fixen (falls er es nicht ohnehin tut). Ob diese Form von dreifachem Dranbleiben für sich genommen schon ein Verdienst ist, sei dahingestellt. Was auf jeden Fall bleibt, sind die älteren Songs, denn die sind „Out of Time“ - im Sinne von zeitlos. Sechs Generationen an Teenagern, die wütend ihre Kinderzimmertür zuknallen und „(I Cant’t Get No) Satisfaction“ auf Anschlag aufdrehen, können nicht irren.
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