Stärkste politische Kraft in Ägypten
Die Muslimbrüder wollten weder das ägyptische Parlament noch das Präsidentenamt dominieren. Im neu gewählten Parlament stellen sie allerdings bereits die Mehrheit, nun stellen sie entgegen früherer Ankündigungen mit ihrem stellvertretenden Vorsitzenden Chairat al-Schater selbst einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Noch vor wenigen Wochen hatte Schater eine Kandidatur der Muslimbrüder stets dementiert. Nun ist alles anders. Am Wochenende wurde Schater, der eine strenge Auslegung des Islam vertritt, als Präsidentschaftskandidat der Muslimbrüder präsentiert. Am Donnerstag reichte er seine Bewerbung offiziell bei der Wahlkommission in Kairo ein. Der Geschäftsmann wurde von rund tausend Anhängern begleitet. Sie riefen: „Das Volk will Schater als Präsident.“

AP/Mohammed Abu Zaid
Schater tritt für die Muslimbrüder als Präsidentschaftskandidat an
Nun kündigte er bei der Versammlung einer islamistischen Vereinigung an, im Fall eines Wahlsiegs das islamische Recht, die Scharia, einzuführen. Das sei sein „erstes und letztes“ Ziel. Zudem wolle er den Einfluss des Innenministeriums einschränken, das immer wieder eine zentrale Rolle bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit gespielt habe.
Empörung über Kandidatur
Die Empörung über Schaters Kandidatur ist groß. Teile der Bevölkerung, darunter auch die Bewegung des Tahrir-Platzes, sehen die Revolution und demokratischen Ziele durch die Muslimbrüder zerstört.
Chairat al-Schater
Der 61-jährige Muslimbrüder-Kandidat ist erzkonservativ und gilt als volksnah. Schon 1995 stieg der Unternehmer und Ingenieur in die Führungsebene der damals noch verbotenen Bewegung auf. Unter dem Mubarak-Regime musste der zehnfache Vater mehrfach ins Gefängnis.
Sie kritisieren, dass die gut organisierten Muslimbrüder die Kontrolle Ägyptens übernehmen, bevor sich andere politische Gruppierungen überhaupt erst formieren können. „Dass die Muslimbrüder jetzt doch noch einen eigenen Kandidaten aufgestellt haben, wirft Fragen zu ihrem Demokratieverständnis auf“, kritisierte etwa der liberale Parlamentsabgeordnete und Politologe Amr al-Schobaki.
Kritik an der Nominierung Schaters kam allerdings auch aus der Muslimbruderschaft selbst. Er wurde nur mit knapper Mehrheit zum Kandidaten gewählt. Nach der Entscheidung verließen einige Mitglieder die Muslimbrüder als Zeichen der Kritik.
Deal mit Militärrat?
Vorgesehen ist, dass der derzeit herrschende Militärrat nach der Präsidentschaftswahl die Macht abgibt. Den Muslimbrüdern wurde vorgeworfen, dass es eine Abmachung mit dem Militärrat unter dem Vorsitz von Mohammed Hussein Tantawi und den Muslimbrüdern über die Kandidatur gegeben habe.
Der koptisch-katholische Bischof Ibrahim Isaac Sidrak ist überzeugt, dass sich der Militärrat mit den Muslimbrüdern und Salafisten arrangiere. Der Militärrat wisse genau, dass er zur Rechenschaft gezogen werde, sobald er die Macht abgeben müsse, und versuche sich als „Retter Ägyptens“ darzustellen. Dem widersprach Schater vehement. Mit dem regierenden Militärrat sei kein Deal ausgehandelt worden. Allerdings musste der Militärrat alle früheren Anklagen und Prozesse gegen Schater fallenlassen, bevor Schaters Kandidatur möglich wurde.
„Demokratischer Prozess bedroht“
Die Muslimbrüder rechtfertigten die Kandidatur damit, dass der „demokratische Prozess in Ägypten bedroht“ sei. Ihre Ziele seien allein aus dem Abgeordnetenhaus nicht voranzubringen: „Wir haben vielmehr Hürden erkannt, die Parlamentsentscheidungen für einen Erfolg der Revolution im Weg stehen“, sagte Parteichef Mohamed Morsi und verwies dabei indirekt auf den wachsenden Unmut über Maßnahmen, mit denen die Armee den Wandel vorantreibt.

Reuters/Mohamed Abd El Ghany
Der Salafist Abu Ismail konnte seine Popularität zuletzt ausbauen
Dahinter dürfte aber auch ein strategisches Kalkül liegen, analysiert der Ägypten-Experte Marwan Bischara in einem Kommentar für al-Jazeera. Denn stellen die Muslimbrüder keinen Kandidaten, könnte die konkurrierende salafistische Nur-Partei - die rund ein Viertel der Parlamentssitze kontrolliert - und deren Kandidat Hasem Salah Abu Ismail die Wahlen gewinnen.
Salafistenkandidat will Schleier für alle Frauen
Abu Ismail, der früher selbst der Muslimbruderschaft nahegestanden war, legte zuletzt enorm an Popularität zu. Der salafistische Rechtsanwalt hatte erklärt, bei einem Wahlsieg alle Frauen zum Tragen des Schleiers verpflichten zu wollen. Eine Verheiratung zwölfjähriger Mädchen hält er für akzeptabel. Touristen sollte das Trinken von Alkohol verboten werden. Zudem fordert er vehement die Kündigung des Separatfriedens mit Israel.
Mittlerweile muss er aber um seine Kandidatur bangen. Diese könnte abgelehnt werden, weil seine Mutter angeblich kurz vor ihrem Tod US-Bürgerin geworden war. Das ägyptische Recht lässt keine Kandidatur für das höchste Amt zu, wenn ein Ehepartner oder Elternteil des Bewerbers eine andere Staatsbürgerschaft besitzt. Einige Beobachter vermuten, dass diese Berichte von den Muslimbrüdern gestreut sein könnten.
Dominanz ruft Unmut hervor
Diese sind derzeit stärkste politische Kraft in Ägypten. Ihr politischer Flügel, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) hat mit 47 Prozent die Mehrheit im neu gewählten Parlament. Parlamentssprecher Saad al-Katatni führt zudem auch die verfassungsgebende Versammlung.
Diese Dominanz hat zuletzt heftigen Unmut hervorgerufen. Säkulare Parteien, Kopten und die sunnitische Partei al-Aschar sind bereits aus der Kommission zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgestiegen. Sie kritisieren, dass die dominierenden Islamisten - Muslimbrüder und Salafisten - vorrangig eigene Interessen verfolgen und die Stellung des Islam in der Verfassung stärken wollen, was von der Muslimbruderschaft dementiert wird.
Spaltung des islamistischen Lagers möglich
Gewinnen die Muslimbrüder auch noch das Präsidentenamt, stehen sie im gesamten politischen System Ägyptens an der Spitze. Dann könnten dieselben Vorwürfe wie gegen die allein herrschende Nationale Demokratische Partei (NDP) unter dem früheren Machthaber Hosni Mubarak gegen sie fallen. Kommen sie bei der Präsidentschaftswahl nicht zum Zug, könnte ihr politisches Standing unterminiert werden, so der politische Analyst Bischara.
Mit der Kandidatur Schaters könnte sich zudem das islamistische Lager spalten. Denn bei der Ende Mai beginnenden Präsidentschaftswahl werden mindestens drei weitere Politiker antreten - neben Abu Ismail wird auch der von den Muslimbrüdern ausgeschlossene Abdel Moneim Abul Futuh antreten. Kritiker fürchten, dass dadurch die Chancen für Kandidaten, die noch dem früheren Mubarak-Regime verbunden sind, steigen.
Links: