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„Methoden aus dem letzten Jahrtausend“

Welche Strafen an Schulen sind erlaubt, welche nicht? Unter Lehrern herrscht Unsicherheit, Eltern und Schüler sind mit der aktuellen Situation ebenfalls unzufrieden. Ein gemeinsam erstelltes Regelwerk soll für Abhilfe sorgen.

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Momentan fühlen sich die Lehrer mit ihren Problemen alleine gelassen - sie agieren oft im rechtsfreien Raum, wenn sie für Ordnung sorgen wollen. Die Leiterin der Abteilung Schulpsychologie im Wiener Stadtschulrat, Mathilde Zeman, definiert zunächst, was eindeutig festgelegt ist: „In einer ganz konkreten Situation darf der Lehrer nichts tun, was die Würde und die Sicherheit des Kindes gefährdet.“

Allerdings gebe es einen Bedarf an neuen Regeln des Zusammenlebens, weil die Arbeit mit Kindern aufgrund gesellschaftlicher Faktoren schwieriger geworden sei, so die Schulpsychologin. Sich verändernde Familienstrukturen, eine schwierigere Situation auf dem Arbeitsmarkt und hohe Erwartungshaltungen an die Leistung der Kinder würden zu Druck in den Familien führen - mehr dazu in oe1.ORF.at.

„Man erzeugt Unmut und Aggressionen“

Diese Belastungen wirken sich auch auf den Unterricht aus, weiß der Vorsitzende der Pflichtschullehrergewerkschaft, Paul Kimberger, aus jahrelanger Erfahrung: „Wir stellen fest, dass es in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg an Verhaltensauffälligkeiten gibt.“ Er spricht von „Erziehungsdefiziten“: „Die Kinder brauchen von der Schule mehr. Ich denke, dass wir mit den Werkzeugen, die wir momentan als Lehrer zur Verfügung haben, nicht mehr das Auslangen finden.“

Deshalb greifen immer mehr Lehrer zur Selbsthilfe: An einer Hauptschule müssen Schüler etwa ihre nicht rechtzeitig abgegebenen Hausübungen am Nachmittag in der Schule machen, der Direktor passt auf und hilft mit. Die Schulpsychologin Zeman hat damit kein Problem - ebenso wenig der Lehrervertreter. Bundesschulsprecherin Conny Kolmann hält hingegen nichts vom Nachsitzen: „Da entzieht man der Person vielleicht für kurze Zeit ihren Freiraum, aber eigentlich erzeugt man bei ihr innerlich nur Unmut und Aggressionen.“

Maßnahme „wirklich 70er Jahre“

An einem Gymnasium wird ein Schüler, wenn er lästig ist, von einem ansonsten engagierten und beliebten Lehrer vor die Tür geschickt. Dort muss er die Schnalle halten - als Beweis, dass er nicht davonläuft. Diese Maßnahme stößt auf Ablehnung, vor allem bei AHS-Elternvertreter Theodor Saverschel: „Diese Variante ist wirklich 70er Jahre, absolut indiskutabel. Das kommt nicht infrage.“

In einer Volksschule sind zwei Lehrerinnen einer sogenannten Problemklasse chronisch überfordert. Bei ihnen müssen die Kinder im „Winkerl“, also in der Ecke, stehen. Lehrergewerkschaft-Vorsitzender Kimberger sagt zwar, dass sich Lehrer nicht alles gefallen lassen müssten, er hält das Vorgehen dieser Pädagogen aber dennoch für falsch. Mit „Methoden aus dem letzten Jahrtausend“ könne an einer modernen Schule nichts gewonnen werden.

Ratschläge aus der Sonderpädagogik

Ebenfalls ein Beispiel aus einer Volksschulklasse: Wenn einige Kinder schlimm sind, wird allen der Turnunterricht gestrichen. Elternvertreter Saverschel erklärt, dass Kollektivstrafen illegal seien - und er könne der Maßnahme auch sonst nichts abgewinnen: „Wie kann man so mit Kindern umgehen? Wie kann man ihnen das Turnen verbieten, wo wir doch fordern, dass mehr Bewegung gemacht wird? Ich bin fassungslos, ganz ehrlich.“

Bundesschulsprecherin Kolmann wünscht sich, dass Lehrer nicht, wie sie es nennt, sinnlose Strafen verteilen, sondern als Vorbilder agieren - und sich notfalls Hilfe holen: „Lehrer sind überfordert, weil sie nicht wissen, wie sie mit schwierigen Kindern umgehen sollen. Deshalb wäre es wichtig, dass aus der Sonderpädagogik Ratschläge geholt werden, um die Kinder auf andere Weise beruhigen zu können.“ Außerdem - und darin geben ihr Eltern- und Lehrervertreter recht - müsste Pädagogik eine weit wichtigere Rolle in der Lehrerausbildung spielen.

„Ich soll meine Schlapfen tragen“

Kolmann weiß, was sie meint, wenn sie von „sinnlosen“ Strafen spricht. Sie wollte in der Unterstufe nie ihre Patschen anziehen. Nicht nur einmal habe sie deshalb 100-mal „ich soll meine Schlapfen tragen“ schreiben müssen. Alleine die Notwendigkeit der Wiederholung dieser Maßnahme zeigt, wie wenig sie bringt.

Damit sich die Zustände verbessern, wird von allen Seiten mehr Geld für ein Unterstützungssystem rund um die Lehrer gefordert. Für Schulpsychologin Zeman sind zusätzliche Ressourcen unumgänglich: „Ich brauche speziell ausgebildete Lehrer an den Schulen. Ich brauche unbedingt Schulpsychologen, ich brauche Schulsozialarbeiter.“ Es müsse erst gar nicht zur Eskalation kommen, wenn man intensiv mit Kindern arbeite, die Probleme haben.

Vereinbarung statt „Wildwest-Methoden“

Noch im März wollen sich jedenfalls Eltern-, Lehrer- und Schülervertreter zusammensetzen, um eine Verhaltensvereinbarung zu erarbeiten, an die sich dann Pädagogen und Kinder gleichermaßen halten müssen. Dadurch, so AHS-Elternsprecher Saverschel, sollen künftig „Wildwest-Methoden“ in der Bestrafung vermieden werden.

Auch Lehrergewerkschafter Kimberger ist überzeugt: „Dieses Regelwerk ist dringend notwendig, und zwar auf einer rechtssicheren Basis. Damit die Lehrerinnen und Lehrer genau wissen, das ist möglich und das ist nicht möglich, und sich nicht wie jetzt sehr häufig in einem rechtsfreien Raum befinden.“

Brandsteidl: „Purer Unsinn“

Auf Nachfrage von Ö1 sagte die Wiener Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl: „Winkerlstehen, heißen Topf halten und so etwas ist natürlich purer Unsinn, und das wird auch von fortschrittlichen Lehrern nicht gemacht. Aber selbstverständlich gibt es gewisse Erziehungsmaßnahmen, die sinnvoll sind.“

Als sinnvolle Maßnahme erachtet sie das Nachholen von Versäumtem - „etwa wenn man zu spät kommt oder Schule geschwänzt hat. Das ist in jedem Fall eine intelligente Maßnahme. Und wenn das gemeinsam vereinbart ist, ist das auch gut und wird von allen mitgetragen.“

Bisher Vereinbarungen je nach Schule

Im Unterrichtsministerium wird zudem darauf verwiesen, dass es bereits in 80 Prozent der Schulen Verhaltensvereinbarungen gibt. Allerdings sind diese nicht verbindlich. Elter-, Lehrer- und Schülervertreter wollen eine Vereinbarung treffen, die dann für alle Schulen gilt - und verbindlich ist. Sie soll dann Rechtssicherheit für Lehrer bringen - und Schülern Fairness garantieren.

Der Leiter des schulpsychologischen Dienstes, Gerhard Krötzer, hob gegenüber Beate Tomassovits von Ö1 vor allem die Wichtigkeit des gemeinsamen Entstehens solcher Vereinbarungen hervor: „Wir sind natürlich bemüht, Unterstützung zu bieten, damit das auch gut funktioniert. Dass es hier kein Diktat gibt, also der Schulleiter sich etwas ausdenkt, und alle unterschreiben dann, sondern dass das tatsächlich ein Vereinbarungsprozess ist. Denn dann ist das Commitment, das ‚Stehen dazu‘, zu dieser Vereinbarung, von allen Seiten wesentlich besser gesichert.“

Belastung für Lehrer nicht gestiegen?

Brandsteidl hat nicht den Eindruck, dass die Belastung für Lehrer steige, weil sie mehr Erziehungsarbeit leisten müssen: „Nein, das würde ich so allgemein nicht sagen. Auch das ist eine Frage der Wahrnehmung und des Vergleichs.“ Es gebe zwar gesellschaftliche Veränderungen. Aber die Erziehung sei immer schon eine Aufgabe der Schule gewesen: „Das ist nichts Neues, und da kann man nicht sagen, dass Lehrer jetzt mehr ‚erziehen‘ müssen als früher. Das glaube ich nicht.“ Im Stadtschulrat und im Unterrichtsministerium verwies man außerdem darauf, dass die psychologische und soziologische Betreuung laufend ausgebaut werde.

Simon Hadler, ORF.at

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