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„Die eigene Zeit geistig bewältigen“

Der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf erläutert im Gespräch mit ORF.at, warum Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gerade auch für die Gegenwart eine „genüssliche“ Lektüre darstellt. Das Buch sei zwar nicht so eingängig wie der „Schatz im Silbersee“. Aber: In wenig anderen Büchern finde man eine gerade auch „vergnügliche“ Diagnose der Moderne und ihrer Probleme wie im „Mann ohne Eigenschaften“.

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Wolf erklärt im Gespräch auch, warum Musil seinen Roman im Wien des Jahres 1913/14 ansiedelt, zugleich aber Debatten, die etwa typisch für die Zwischenkriegszeit sind, auf die österreichisch-ungarische Metropole projiziert.

ORF.at: Warum ist für Musil ausgerechnet das Wien vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Labor der Moderne?

Norbert Wolf: Es geht ihm weniger um einen nostalgischen Rückblick auf die Kaiser-Zeit, wie dies etwa partiell bei Joseph Roth der Fall ist. Ihn interessiert die österreichisch-ungarische Metropole als Schmelztiegel unterschiedlichster nationaler, kultureller, religiöser und künstlerischer Strömungen und Bewegungen. In Wien wurde gleichzeitig der moderne Pazifismus und der moderne Antisemitismus entwickelt, hier entstand die freitonale Musik zur selben Zeit, als eine seichte Operette ihre Hochblüte hatte, hier experimentierten Klimt, Schiele und Kokoschka mit moderner Malerei, während Hitler sich als Maler durchzusetzen versuchte, hier feierte ein jahrhundetealter Adel seine großen Feste, während Leo Trotzky im Café Central seine politischen Pamphlete entwarf. Wien zeigt Brüche und Risse, die Teil des Modernisierungsprozesses sind, besonders drastisch.

ORF.at: Wie sehr prägen typische Debatten aus der Zwischenkriegszeit das Schaffen von Musil?

Wolf: Musil wollte keinen historischen Roman schreiben, sondern einen Roman, der in der Lage war, die eigene Zeit geistig zu bewältigen. Insofern operiert er in der Welt seines Romans ständig auf zwei Ebenen: Einerseits siedelt er die Handlung in der scheinbar heilen Welt vor Kriegsausbruch an, andererseits montiert er zunehmend Ereignisse und Inhalte ein, die erst in der Zwischenkriegszeit geschahen.

So finden sich im Roman etwa Phänomene verhandelt, die um 1913/14 noch nicht so sichtbar waren: die fortschreitende Normalisierung des Individuums durch wissenschaftliche Disziplinen wie Statistik, Psychotechnik, Psychiatrie und Soziologie, die fortschreitende Frauenemanzipation inklusive sexualwissenschaftlicher Errungenschaften, die mit einer Erschütterung stabiler Geschlechteridentitäten einherging, die fortschreitende politische Radikalisierung zwischen Extremen im rechten, in geringerem Ausmaß aber auch im linken Lager. Die fortschreitende Kapitalisierung des Kulturbetriebs, die neue Formen von Schriftstellerei hervorbrachten, all das fließt auf höchst differenzierte Weise in seinen Roman ein.

ORF.at: Musil spielt in seinem Roman auch auf der Klaviatur des Österreich-Deutschland-Gegensatzes: Warum tun sich Deutsche so schwer, die österreichischen Gesellschaftscodes zu entschlüsseln?

Wolf: Die unterschiedlichen Geschichten der beiden Staaten, die unterschiedliche Geschichte ihrer Kultur, führt Preußen und Österreicher zu ganz unterschiedlichen Denkweisen und geschmacklichen Vorlieben. Musil will nicht bestimmte kulturelle Codes als „wesenshafte Eigenschaften“ einer Kultur zementieren, sondern sie eher in ihrer Willkürlichkeit und Widersprüchlichkeit ausstellen.

Die österreichische, insbesondere die Wiener Gesellschaft, ist von einer höchst wechselhaften und widersprüchlichen jahrhundertealten Geschichte geprägt, die den verschiedensten kulturellen Einflüssen ausgesetzt war, was man etwa an der Wiener Küche erkennen kann im Unterschied etwa zur Berliner, die doch einförmiger ist. In Wien gab es lange die einzige international konkurrenzfähige Hofkultur, die meist nicht deutsch, sondern italienisch oder französisch geprägt war. Insofern vermag nur derjenige diese Kultur und ihre Codes adäquat zu entschlüsseln, der diese lange Geschichte durch seine Herkunft in seine Verhaltensnorm aufgenommen hat.

ORF.at: Inwiefern wirken bestimmte Figuren oder Konstellationen Musils in die Gegenwart nach?

Wolf: Einerseits wirken die Phänomene und Probleme der von Musil analysierten Gesellschaft und Kultur nach, weil es sich beim heutigen Österreich um einen späteren historischen Zustand desselben Gemeinwesens handelt und weil im aktuellen Europa zum Teil ganz ähnliche Probleme zu beobachten sind. Andererseits wirken Figuren oder Konstellationen Musils auch in der österreichischen und internationalen Literatur nach, ja sogar im Film, weil sie kanonisch geworden sind und sich als literarische Chiffre für bestimmte Phänomene eignen.

Das lässt sich etwa an Texten von Ingeborg Bachmann bis Robert Menasse beobachten, um nur zwei prominente Namen zu nennen. So ist es durchaus konsequent, dass „Der Mann ohne Eigenschaften“ in einer vom Literaturhaus München in Verbindung mit dem Bertelsmann Verlag durchgeführten Befragung von je 33 Autoren, Kritikern und Germanisten über die „wichtigsten“ deutschsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts an erster Stelle rangierte. Übrigens vor Kafkas „Proceß“, Thomas Manns „Zauberberg“ und Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Auch in der Germanistik gibt es einen seit Jahrzehnten nicht abreißenden Musil-Boom, der sich in einer Flut von Publikationen niederschlägt.

ORF.at: Aus welchem Grund empfiehlt sich aus der Gegenwart eine Lektüre von Musil?

Wolf: Bei Musils Texten handelt es sich um anspruchsvolle Kost, die stets auch eine intellektuelle Herausforderung darstellt und eingeschliffene Denkgewohnheiten stilistisch brillant irritiert. Die Lektüre lohnt sich aber auch insofern, als hier auf streckenweise durchaus vergnügliche Weise eine Diagnose der modernen Welt und ihrer Probleme erfolgt. Eine Diagnose ist in dieser Genauigkeit und Dichte wohl sonst nicht zu finden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Bruno Kreisky den „Mann ohne Eigenschaften“ zu seinem Lieblingsbuch erklärt hat, zumal seine eigene Widersprüchlichkeit sich darin spiegelt. Ebenfalls kein Zufall ist es wohl, dass heutige Politiker damit weniger anzufangen wissen als etwa mit „Der Schatz im Silbersee“.

Das Gespräch führte Gerald Heidegger, ORF.at

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