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Im Zwielicht des Gefühls

Am 15. April jährt sich Robert Musils Todestag zum 70. Mal. Staatsakte werden ausbleiben. Dabei sind es gerade Politiker, die gerne den „Mann ohne Eigenschaften“ als Lieblingsbuch preisen. Wie dieser Roman als ausgeklügelte Gesellschaftsanalyse funktioniert, zeigt nun der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf. Er belegt auch, wie sehr ausgerechnet das scheinbar rückwärtsgewandte Kakanien ein genuines Labor der Moderne war.

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„Der sanfteste aller Staaten stürmte in manchem seiner Zeit heimlich voraus“ - so ironisch und zugleich programmatisch charakterisiert die Erzählstimme in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ den Status Kakaniens gegenüber scheinbar moderneren Ländern, allen voran das aufstrebende Deutschland.

Über das Modell des Chronotopos, also die Verflechtung von Zeit- und Raumporträt, versucht Wolf den Musil’schen Kosmos zu erschließen und zu zeigen, wie sehr die Welt bei Musil nicht zuletzt ein soziales Labor der Moderne ist. Zu Hilfe nimmt Wolf die Sozioanalyse des französischen Theoretikers Pierre Bourdieu, die hier erstmals auf ein deutschsprachiges Werk des 20. Jahrhunderts angewendet wird (Bourdieu operierte ja selbst in „Die Regeln der Kunst“ am französischen Roman des Realismus).

Fein gewebte Welt

Wolf erinnert auch daran, wie sehr Musil Debatten und Diskurse der Zwischenkriegszeit auf ein spezifisches Jahr (1913/1914) und einen spezifischen Ort, „die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien“, rückprojiziert, etwa wenn er Todeszahlen aus dem Ersten Weltkrieg zur Unfallstatistik Kakaniens amalgamiert. Die Konstruktionen und Verdichtungen treibt Musil bis ins kleinste Eck des Sozialen, etwa in der Gestaltung und Entwicklung seiner Figuren, die immer auch an den sozialen Raum und Kämpfe in diesem Raum rückgekoppelt bleiben.

Der Roman wird so, wie Wolf auf mehr als 1.000 Seiten zeigt, zu einem genuinen Medium der Gesellschaftsanalyse - und ermöglicht dadurch eine stärkere Fokussierung auf soziale Vorgänge als klassische wissenschaftliche Disziplinen (die im Bereich empirischer Sozialwissenschaft zur Zeit Musils zudem alles andere als hoch entwickelt waren).

Vorwurf des Analytischen

Musil ist sich des analytischen Potenzials des Romans bewusst, fürchtet aber zugleich um die Einengung des Blicks durch zu viel Wissenschaftlichkeit. „Unser Interesse verlangt, die Analyse zu vermeiden“, notiert er 1930 nach Abschluss des ersten Romanbuchs in sein Arbeitsheft: „Wir gewöhnen uns erst an sie, wenn sie uns eine bessere Synthese verspricht. Darum die Abneigung des Publikums gegen einen Schriftsteller wie mich und der Vorwurf des Analytischen, Zersetzenden. (...) Die Abneigung gegen das Herumstierln im Dasein ist berechtigt.“

Robert Musil an einem Schreibtisch voller Unterlagen und Bücher

picturedesk.com/Interfoto/Friedrich

Robert Musil in seiner Bibliothek: „Die Abneigung gegen das Herumstierln im Dasein ist berechtigt.“

„Musil denkt wie ein Deutscher“

Musil rede wie ein Österreicher und denke wie ein Deutscher, wird sein Zeitgenosse Joseph Roth einen Grundverdacht gegen Musil festhalten. Genährt wird das Fremdeln mit Musil durch den Stil des Autors, in dem Erzählung und Essayismus miteinander verschaltet werden. Der Essay, so Musil, habe „von der Wissenschaft die Form und Methode(,) von der Kunst die Materie“: „Er sucht eine Ordnung zu schaffen und (...) geht von Tatsachen aus, wie die Naturwissenschaft, die er in Beziehung setzt.“ Doch die so gestiftete Ordnung unterläuft der Erzähler stets mit leicht ironischem Tonfall.

„Kapitulation eines Autors“

Musils Erzählkombinatorik wird später noch Priester des Realismus wie den Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki überfordern, wie Wolf mit ein paar Spitzen untermauert. Musils Roman, so Reich-Ranicki, sei in Gänze „Ausdruck der Unentschlossenheit“, ja stelle die künstlerische „Kapitulation eines Autors“ dar, „der keinen Ausgang aus dem von ihm geschaffenen Chaos finden konnte“.

Musil und Wien

„Diese Stadt (...) bewies durch Jahrhunderte, dass man sehr schöne, ja auch tiefe Dinge hervorbringen kann, wenn man keinen Charakter hat.“

Doch genau die von Reich-Ranicki implizierte Forderung, ein Roman müsse ein stimmig geschlossenes Gesamtpaket sein, liegt nicht in Interesse und Anlagen eines Robert Musils. Das, was Musil an der Moderne interessiere, sei nicht eine „primitive Fortschrittslogik“, erläutert Wolf gegenüber ORF.at: „Musil verschreibt sich einem Konzept von Moderne, das sich für Brüchigkeit, Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit interessiert, und dafür war Österreich-Ungarn eine attraktive Vorlage.“

Das Konzept der Eigenschaftslosigkeit

Musil organisiert, so lässt sich jedenfalls Wolfs Lesart des „Mannes ohne Eigenschaften“ interpretieren, eine Familienaufstellung seiner Zeit: Durch gezielte Positionierung oder Verschiebungen auf dem Reißbrett gesellschaftlicher Bruchlinien werden die Figuren zu neuen, genuin modernen Konflikten oder Zeitdebatten geführt.

Die „Eigenschaftslosigkeit“ der Charaktere ist in ihrer vielschichtigen Anlage und in ihrer Nicht-Reduzierbarkeit auf eindeutige Wesensmerkmale zu suchen. Gleiches gilt auch für den Handlungsort Wien. Wien als einstige Hauptstadt eines multiethnischen und übernationalen Reichs, die aus dem Amalgam verschiedenster Einflüsse besteht, bietet das ideale Experimentierfeld für Musils Gesellschaftsanalyse.

Handgeschriebene Manuskriptseite von Robert Musil

picturedesk.com/Interfoto/Sammlung Rauch

Entwurf zum „Mann ohne Eigenschaften“

„Diese Stadt“, schreibt Musil in einem fingierten „Interview mit Alfred Polgar“ (1926), ist von den Türken belagert und von den Polen tapfer verteidigt worden, sie war im 18. Jahrhundert die größte italienische Stadt, sie ist stolz auf ihre Mehlspeisen, die aus Böhmen und Ungarn stammen, und bewies durch Jahrhunderte, dass man sehr schöne, ja auch tiefe Dinge hervorbringen kann, wenn man keinen Charakter hat.

Die Ordnung war immer schon in Ordnung

Im „Mann ohne Eigenschaften“ fällt der Blick auf eine höchst „geordnete Welt“: „Die Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein (...): Sie ist ihrem Wesen nach schon in Ordnung“, drängt Musil den Blick des beobachtenden Essayisten so lange ins Absurde, dass nicht nur ein Thomas Bernhard in solchen Sentenzen vor seiner Zeit hervorzulugen scheint: „Diese Ordnung war dem Franziskos-Josefinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast zur Landschaft geworden.“

Nichts und niemand ist auf einen Kern reduzierbar, und alles hat einen doppelten Boden. Hier findet Wolf sein Analysematerial, denn stets, so weist er nach, setze Musil seine Figuren in sozialen Spielordnungen ein.

Ulrich und die sozialen Systeme

Zentrum all dieser Spiele ist Ulrich, jene Figur, die man in der Forschung oft als Helden fernab seiner bürgerlichen Herkunft, ja fern von verortbaren sozialen Ordnungen, interpretiert hat. Wolf weist dagegen nach, dass sich Ulrich in all seinem Tun sehr wohl auf die ererbten bürgerlichen Werte und Kapitalien stützen kann. Allenthalben werde, so Wolf, „die Abkehr vom ‚alten Reproduktionsmuster‘ der Familie“ inszeniert. Ulrich verschleiere die Macht der Familie bzw. die Reproduktion von Macht über familiäre Banden durch „Informalisierung“.

So kann sich der Mann ohne Eigenschaften eben auch nicht einer „Zeit seines Lebens erinnern, die nicht vom Willen beseelt gewesen wäre, ein bedeutender Mensch zu werden“. Er realisiert freilich nur das Potenzial der inneren Bedeutsamkeit. Als, wie Wolf es formuliert, „geistiger Dadaist“ ist er ein zeittypischer Intellektueller, ein, wie es Musil nennt, „Theoretiker im Verhältnis zur Gesellschaft und im Verhältnis zur Gegenwart“. Dieser Held Musils spürt, so formuliert es Musil in dem nicht abgeschlossenen Teil seines Romans, dass es ihm gemäße „theoretische Zeiten“ gäbe, allerdings eine „antitheoretische Zeit bereits angebrochen ist“.

Neuer Reichtum, alte Machtrituale

Doch es sind neue Zeiten gerade auch in Kakanien angebrochen und Ulrich „darf den Kopf schütteln und sich fragen: Das ist also das Leben, das meines werden soll?“. Wolf arbeitet an den Konfrontationen und Gegenüberstellungen der Figuren bei Musil heraus, wie sich die neue Zeit in neuen Sozialkonstellationen manifestiert. Auf der einen Seite ortet er in Anschluss an die Arbeiten von Michael Pollack ein starkes Männlichkeitsparadigma bei Musil. Auf der anderen Seite sieht er aber die kakanische Gesellschaft zunehmend sozial so ausdifferenziert, dass „überkommene Hierarchisierungskriterien an Gewicht“ verloren haben, „ohne jedoch gänzlich bedeutungslos zu werden“.

Wolf spricht hier von einer „Konkurrenz zwischen den neuen männlichen Berufsmenschen“. Ulrich, der mit den Kapitalien des etablierten Bürgertums agiert, sei irritiert „vom neuen Reichtum und der daraus resultierenden Macht“, so Wolf, der den Industriellensohn Arnheim als aufkommenden Typus einer Verbindung von Geld und Geist ansieht.

Wolf zeigt, wie sehr gerade Männer im „Mann ohne Eigenschaften“ Revierkämpfe um ihren sozialen Status entfachen und dabei auch die Frauen mit in die Pflicht nehmen: Die Frauen sollen über ihre Treue die männliche Ehre verbürgen. Auch hier ist Ulrich mit dem erotischen Verhältnis zu seiner Schwester Agathe ein Ausreißer zum sozialen Trend, macht ihn dabei aber nur um so sichtbarer.

Tuzzi gegen Arnheim: Österreich und Preußen

In die männlichen Revierkämpfe lässt Musil auch den nationalen (und man könnte sagen: konfessionellen) Hintergrund seiner Akteure einfließen. Wenn Musil beschreibt, wie Hofrat Tuzzi „mit seinem Bärtchen und den südländischen Augen neben dem in einem tadellosen Anzug aus weichem Stoff aufrecht dasitzenden Arnheim aus(sieht) wie ein levantinischer Taschendieb neben einem Bremenser Handelsherren“, dann spielt er auf der Klaviatur der Sticheleien zwischen Österreich und Deutschland. Hier österreichische Vornehmheit, die sich, so Wolf „auf ihre Anciennität“ stütze, da die preußische, auf äußere Tadellosigkeit setzende Haltung.

Germanist und Musilexperte Nobert Christian Wolf

Uni Salzburg

Norbert Christian Wolf: „Musil wollte keinen historischen Roman schreiben, sondern einen Roman, der in der Lage war, die eigene Zeit geistig zu bewältigen.“

Arnheim stößt der österreichische Zynismus ab - bei den Gesprächen mit dem österreichischen Hofrat fühlt sich Arnheim, wie Musil schreibt, so „zugeknöpft wie ein Mann, der zu betonen wünscht, dass es kalt und ernst zu werden hat, sobald von Staatsgeschäften die Rede ist“. Musil, so Wolf, mische das alte österreichische Ressentiment gegen „das als feindlich wahrgenommene Preußen“ mit der neuartigen sozialen Erscheinung des aus niedrigen sozialen Schichten emporgestiegenen, scheinbar unendlich mächtigen „Nabobs“.

Möglichkeitsmensch, Wirklichkeitsmensch

Es handle sich um ein unentwirrbares Gemisch von sozialen und nationalen Antipathien, „wobei das ungewohnt Neuartige gleich als preußisch konnotiert und emotional mithin leicht abgetan werden kann“. Musil ist es freilich nicht um eine Schwarz-Weiß-Malerei bestellt: Gerade in der Konfrontation zwischen Ulrich und Arnheim, dem Aufeinanderprallen von Intellektuellem und Nabob, interessieren ihn die Grauzonen.

Während sich der Möglichkeitsmensch Ulrich, wie es im Roman heißt, „ein Jahr Urlaub vom Leben nimmt“ und sich nicht zuletzt über die Beziehung zu seiner Schwester Agathe von den gesellschaftlichen Realitäten distanziert, ist der Wirklichkeitsmann Arnheim „von Tätigkeit ausgefüllt“. Gepflegter Sozialdünkel, so zeigen es die vielen österreichischen Figuren neben Musil, reicht jedenfalls nicht hin, um sozial komplett anders gestrickten Aufsteigern wie Arnheim Herr zu werden.

„Was ist dem Geist gefährlicher?“

„Der Arnheim hält dich nicht gerade für einen Tatenmenschen“, lässt Musil den General mit dem wunderbaren Namen Stumm von Bordwehr im unvollendeten zweiten Teil des Romans sagen. „Was, glaubst du“, entgegnet Ulrich, „ist dem Geist gefährlicher: Träume oder Ölfelder?“

Viel von der Inszenierung Ulrichs erinnert frappierend an Musils Leben. Der Autor selbst hat sich ja bis zu seinem 30. Lebensjahr von den Eltern aushalten lassen, wie Wolf erinnert. Wolf zeigt im Finale seines Buches die Nähe des Hauptdarstellers zum Autor des Romans, ohne allerdings billige Widerspiegelungsthesen zwischen Autorenleben und Werk zu bedienen. Die Situierung Ulrichs im sozialen Feld der Reichshauptstadt Kakaniens ist strukturell der Position Musils im literarischen und kulturellen Feld seiner Zeit verwandt.

Buchhinweis

Cover des Buches "Kakanien als Gesellschaftskonstruktion" von Norbert Christian Wolf

Böhlau Verlag

Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Böhlau-Verlag, 1.216 Seiten, 98,00 Euro.

Ein Autor und seine Hauptfigur

Musil selbst gestand ja die Modellierung seiner Hauptfigur nach dem Vorbild der eigenen Lebensbiografie. Doch der gerade einmal 1,65 Meter große Autor hat seinen Helden nicht nur größentechnisch gestreckt (der Roman betont Körperstatur und „Breitschultrigkeit“ Ulrichs), Musil radikalisiert in Ulrich die eigene Biografie und damit auch die eigene soziale Position. Im realen Leben, so der Autor, hätte er diese Radikalität „aus ethischen Gründen nicht verantworten“ können.

Ulrich rettet schließlich die Widersprüchlichkeit der eigenen Person in einer Welt, „die selbst durch Unentschlossenheit und Unbestimmtheit“, wie Wolf erinnert, geprägt ist. Eine finale Lösung des ewigen Scheiterns, etwa durch ein angedachtes „negatives Ende“ der Romanhandlung im Krieg, wie es Musil einmal angedacht hat, bleibt aus.

Für Wolf ist Musils Roman, wie er im Gespräch mit ORF.at festhält, gerade was die Gesellschaftsanalyse und die Widersprüchlichkeit sozialen wie kulturellen Handelns betrifft, aktueller denn je: Die Probleme der von Musil analysierten Gesellschaft und Kultur wirkten bis in die Gegenwart nach, „weil es sich beim heutigen Österreich um einen späteren historischen Zustand desselben Gemeinwesens handelt und weil im aktuellen Europa zum Teil ganz ähnliche Probleme zu beobachten sind“. „Musil“, so Wolf ergänzend, „wollte keinen historischen Roman schreiben, sondern einen Roman, der in der Lage war, die eigene Zeit geistig zu bewältigen.“

„Eine merkwürdige Mischung“

„Im Schreiben der Geschichte, die seine hätte sein können“, vermerkt Wolf in seinem Buch mit Rückgriff auf Bourdieu, verdränge Musil den Umstand, „dass diese Geschichte eines Scheiterns die Geschichte desjenigen ist, der sie schreibt“.

Musils Standpunkt in der Literaturgeschichte ist ja auch ein durchaus Ulrich’scher. Von vielen höchst geachtet, selten ganz gelesen - und nicht immer verstanden oder ob der vielen ironischen Brüche und Widersprüchlichkeiten, verstehbar. „Ich bin so bekannt wie unbekannt“, notierte Musil in sein Arbeitsheft, „was aber nicht halb bekannt ergibt, sondern eine merkwürdige Mischung.“

Gerald Heidegger, ORF.at

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