Niemandem ist zu trauen
Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ ist alles andere als ein einfaches Stück. Es ist gespickt mit prallen Metaphern, auf die jeder im Englischunterricht hereinfallen darf. Und es ist voller Andeutungen, die man auf der Bühne leicht abtöten kann. Für die Wiener Burgtheater-Inszenierung entschied sich Regisseur Dieter Giesing fürs leichte Spiel: Er ließ vier großartige Schauspieler gewähren - und dachte Elia Kazans Verfilmung des Klassikers ein paar ironischen Pointen zu.
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Wenn Dörte Lyssewksi am Beginn des Stücks als Blanche DuBois die windschiefe Bühne mit viel Ikea-Interieur von Karl-Ernst Hermann betritt, muss keine Furcht aufkommen, dass sich an die Ringstraße so etwas wie ein Filmklassiker verlaufen hat. Lyssewski stakst mit kurzem Rock und bandagiertem Bein als entlaufene ABBA-„Dancing Queen“ auf die Bühne.
„Immer bequem, das ist mein Motto“
Vivien Leigh aus der Filmfassung lässt nicht grüßen, und das ist ebenso gut wie der Umstand, dass Nicholas Ofczarek in der Rolle des Stanley Kowalski eben nicht den Marlon Brando gibt. Statt Brandos cholerischer Dauerhochspannung zeigt Ofczarek zu Beginn mit ausgestellter Gösser-Muskulatur, dass er es auch gegenüber der fremden Schwägerin, die von der Belle-Reve-Ranch nach New Orleans gekommen ist, eher gemütlich anlegen wird: „Immer bequem, das ist mein Motto“ - was ihm deutliches Damengekicher aus dem Parkett beschert.

Burgtheater/Reinhard Werner
Bierflasche oder Bademantel? Nicholas Ofczarek und Dörte Lyssewski im ständigen Reizklima
Blanche muss die Auflösung des einst stolzen Familienbesitzes miterleben. Doch ihre Existenz hat sie nicht nur auf materiellem, sondern auch auf sozialem Boden verloren. Zu ihrer Schwester Stella nach New Orleans kommt sie nicht zuletzt, weil sie, die Englischlehrerin, nach einem Verhältnis zu einem Schüler ihrer Schule verwiesen wird.
Kampf um den schönen Schein
Mit allen Mitteln versucht sie, den schönen Schein der großen Dame zu wahren - ein Unterfangen, das gegenüber ihrem polnischen Schwager scheitern muss, der getrieben vom Alkohol ein Aufdecker der unangenehmen Bauart ist. Er will selbst nicht an seinen sozialen Status und seine gelebte Alltagsbrutalität erinnert werden, doch Blanche fordert ihn ständig heraus: sozial - und sexuell. In der Mitte zerrieben wird in diesem Spiel Stella, die einen permanenten Parforceritt zwischen der Position als Ehefrau und Schwester zu bewältigen hat. Sie hat die eigentlich schwierigste Rolle im Stück, und Katharina Lorenz gelingt dieser Balance-Akt bravourös.
Vergleichsweise unbedankt bleibt auch Stanleys Freund Mitch, im Filmklassiker von Karl Malden gespielt und im Stück von Dietmar König: Er, der Blanche die Hand der Aufrichtigkeit und eines dauerhaften Glücks reichen möchte, sieht sich enttäuscht in einem Machtspiel zwischen Stanley und Blanche, bei dem man sich nimmt und danach die richtige Version einer Begebenheit durchsetzt.

Burgtheater/Reinhard Werner
Nichts ist verbrieft: Wer hat die Hoheit über Status und Geschichte seines Lebens?
Der Weg in den Irrsinn
Blanche unterliegt in diesem Spiel. Teils muss sie ihre Geschichte selbst aufdecken, etwa die ihrer ersten Ehe zu einem Mann, der seiner Homosexualität gewahr wird. Teils zwingt ihr Stanley die „Wahrheit“, etwa ihre Rolle im Hotel Flamingo zwischen den Freiern, nach penibler Recherche-Arbeit auf. Und am Ende wird sie mit Geschichten, die sich verselbstständigt haben, schrittweise selbst aus dem Raum der Familie entrücken: Das ist keine Erlösung, sondern nur Entrückung - denn die „Elysischen Felder“ sind bei Williams von Anfang an entwertet.
Lyssewski, die als Blanche nach „Platonov“ und „Dem weiten Land“ so etwas wie eine Trilogie seelischer Abgrundrollen vervollständigt, exponiert sich auf vielen Ebenen an diesem Abend und zeigt mitunter auch so viel von der Zwischenebene zwischen Kleidung und Seele, dass man bei den vielen Bade- und Anziehszenen zwischen Milchglas und Plastikvorhang gerne einmal wegschauen möchte.
Ofczarek reizt sie mit geschickter Dosierung zum schrittweisen Wahnsinn. Anders als Brando ist er weniger der soziale Komplett-„Predator“ als jener Machttypus, der einem auch in der maskulinen Kultur des goldenen Wiener Herzen entgegenkommt: mit aller Macht (und Mut durch Alkohol) den Status quo erhalten.

Burgtheater/Reinhard Werner
Wer darf mit an den Pokertisch? Kein Platz für Blanche
Williams als Tabubrecher
Williams rüttelte mit dem Stück bekanntlich an einigen Tabus: eingefahrene Rollenbilder über die Frau, häusliche Gewalt und Homosexualität. Gleichzeitig schuf er mit der Gegenüberstellung der alten Südstaaten-Möchtegern-Aristokratie und dem aufstrebenden Arbeiter aus der Einwanderergeneration einen sozial brisanten Plot. Dabei ist sein Modernismus, anders als bei seinem Landsmann und Südstaaten-Kollegen William Faulkner, einer, der über die aufgegriffenen Themen wirkt und weniger über die avantgardistische Bauart seines Stücks.
Wo Faulkner mit ähnlichen Themen das Publikum zwei Jahrzehnte davor durch die Konzeption seiner Texte überforderte, landet Williams mittels Broadway-Zuschnitts seiner Arbeit das brisante Material im Herzen der Gesellschaft. Zugleich ist sein Stück genau dort stark, wo es eigentlich Anti-Theater ist und die Kunst der Schauspieler fordert: Es geht um Andeutungen, Versionen von Geschichten und der heiklen Frage, wem mit welcher Darstellung von Geschichte zu trauen ist. Steht man bei Faulkner in dieser Frage immer vor geschlossenen Türen, die man nur über Umwege öffnen kann, lässt Williams die Storyversionen aufeinanderprallen, ohne eindeutige Vorgaben zu machen.
So kann das Stück enden mit einer Stella, die sich von ihrem polnischen Aufsteiger löst, aber auch einer, die nie wegkommt aus dem Beziehungskreislauf der Abhängigkeit. Das Publikum feierte an diesem Abend eine schauspielerische Gesamtleistung, wobei sich Dietmar König mehr Beachtung im Dreigestirn Blanche - Stella - Stanley verdient hätte.
Das Spiel mit der Vorlage
Gewitzt ist man auch mit der mächtigen Filmvorlage umgegangen: Wer beim Kippen von Blanche in den Wahnsinn die Melodie aus dem Film oder einen davor eigesetzten Parfümflacon erkennen konnte, durfte sich leise freuen. Und als zu Beginn klassischer Jazz, analog zum Film, aufflackerte, schuf das einen nötigen Verfremdungseffekt zu einem durch viele Bearbeitungen und Schulunterrichtsstunden abgegriffenen Klassiker. Hier wollte man schon unterwegs sein in die Gegenwart, in der eine Fächerpalme traurig durchs Fenster winkte. Das „Streetcar named desire“ vor den Toren des Burgtheaters ist der D-Wagen in Richtung des einstigen Südbahnhofs.
Gerald Heidegger, ORF.at
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