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Das „andauernde Stockholm-Syndrom“

„Da waren sie wieder, meine drei großen Probleme: die Krise, die Katastrophe und die Tragödie dahinter.“ Rene Polleschs jüngstes Stück, das am Mittwochabend im Akademietheater Premiere feierte, widmet sich dem Zwischenmenschlichen und der Suche nach dem Knoten, der Menschen zusammenhält - oder auch trennt.

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Mitten drin: Martin Wuttke, der als Startänzer Emmet Ray versucht, seinem Leben eine neue „Liturgie des Sinns und der Wahrheit“ zu geben. Ihm zur Seite stehen mit Catrin Striebeck als Blanche, Margit Carstensen als Hattie und Stefan Wieland als Django ausnahmslos erfahrene Pollesch-Spieler. Als inhaltlich losen Mantel für die „Liebe des Nochniedagewesenen“ hat sich Pollesch Woody Allens Film „Sweet and Lowdown“ aus dem Jahr 1999 gewählt. Ihm sind sowohl Rollennamen - Emmet Ray ist bei Allen ein Jazzmusiker, Django Reinhardt sein großes Idol - als auch Zitate entlehnt.

Stefan Wieland, Catrin Striebeck, Martin Wuttke, Margit Carstensen in "Die Liebe zum Nochniedagewesenen"

Burgtheater/Reinhard Werner

„Ich brauche das alles: den Sturm, die Seenot - alles was man sich unter einer Katastrophe vorstellt, um in Stimmung zu kommen. Ohne das schaff ich es nicht.“

Heiße Luft und hohe Philosophie

Trotzdem ist das Stück, typisch für Pollesch, ein Drama ohne Handlung im herkömmlichen Sinn. Vielmehr ist die „Liebe zum Nochniedagewesenen“ eine Collage aus Assoziationsketten, die zugunsten sich abwechselnder hochphilosophischer und Nonsens-Textbrocken auf eine stringente Geschichte verzichten.

Vielmehr ergründen die Darsteller die Suche Emmets nach dem ultimativen Ganzen - denn es geht schließlich im Leben nicht um „das Wesen der Liebe, das sich exemplarisch an uns ereignet“, sondern um die „Liebe schlechthin“. Ob diese nun nur als Austausch von Viren und Bakterien besteht, sich in einem „andauernden Stockholm-Syndrom“ manifestiert, irgendwo zwischen Tragödie, Katastrophe und Krise umhergeistert - oder ob die Liebe doch der „wahre Ort eines Uns“ ist, bleibt dabei als Verhandlungsgegenstand ungeklärt.

 Margit Carstensen und Martin Wuttke in "Die Liebe zum Nochniedagewesenen"

Burgtheater/Reinhard Werner

„Die Ansammlung von individuellen Geschichten kann nicht nachvollziehbar sein. Es muss das Singuläre sein, die Liebe schlechthin, die nachvollziehbar ist.“

Die Rollen der Schauspieler sind zwar zugewiesen, für die Handlung ist deren Verteilung aber von nebensächlicher Bedeutung. Vieles wird emotionslos in den Raum geworfen, Sätze wie im Vorbeigehen hingerotzt und Gefühlsgeladenes trocken wiedergegeben. Als Meisterin der Nonchalance erweist sich Fassbinder- und Schlingensief-Schauspielerin Carstensen, die mit treuherzigen Augen emotionsgeladene Inhalte ausspuckt als wären es mathematische Formeln.

Wiederholungen, Versprecher, Aussetzer und Gestotter gehören im „Nochniedagewesenen“ zum guten Ton und die Souffleuse auf der Bühne als Teil der Inszenierung schon zum Standardrepertoire des hessischen Regisseurs. Zum Einsatz kommt sie viel, stören tut das jedoch nie.

Wuttke im Balletttrikot

Genauso altbekannt als Stilmittel: die Livekamera mit den auf den Vorhang projizierten Dialogen und die Unterbrechung durch musikalische Einlagen. So darf Wuttke im hautengen Kuhtrikot zu Claude Debussys „L’apres-midi d’un faune“ seine klassischen Ballettfähigkeiten unter Beweis stellen und Striebeck mit Stirnlampe durch das Innere eines Riesenknotenlabyrinths kriechen, das die Bühne beherrscht.

Denn der Knoten, der für Emmet „das Ding schlechthin“ ist und ihn an „jedem Punkt des Seins mit Sinn versorgt“, ist nicht nur ein metaphorischer, sondern vielmehr ein wesentlicher Teil des ansonsten zurückhaltend einfachen Bühnenbildes von Bert Neumann: eine gelbe, verknotete Riesenwurst, die aufgeblasen einen Knoten ergibt und im luftleeren Zustand als schlaffe Hülle herumliegt.

Hinweis:

„Die Liebe zum Nochniedagewesenen“ ist im Wiener Akademietheater am 7., 10., 14. und 23. Dezember sowie am 15. und 18. Jänner zu sehen.

Keine Überraschung, viel Unterhaltung

Überraschen in Bezug auf die Inszenierung kann die „Liebe zum Nochniedagewesenen“ im Rahmen des bekannten Pollesch-Oeuvres in mehreren Aspekten nicht. Dafür lieferte der Autor-Regisseur einen Text, der nicht nur mit vordergründigem Witz aufwartet, sondern auch einen zweiten Blick verdient. Denn hinter tragikomischem Slapstick und ein bisschen heißer Luft verbirgt sich humorvolle Tiefgründigkeit, die sich teilweise erst im Nachhinein erschließt.

Zum stillen Grübeln entlässt Pollesch das Publikum nach der Inszenierung dennoch nicht - mit Beach-Boys-Klängen als Schluss- und Applausmusik ließen sich Ensemble und Team feiern und ernteten bei der Premiere viel Jubel - „Good Vibrations“ für den Nachhauseweg.

Sophia Felbermair, ORF.at

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