Themenüberblick

Angst vor Chemiewaffen

Die Rebellen in Libyen stehen nach eigenen Angaben zum Angriff auf Sirte, die Geburtsstadt des untergetauchten Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi, bereit. Die Übergangsregierung verhandelt seit Tagen über eine friedliche Übergabe der strategisch wichtigen Küstenstadt. Sie liegt etwa in der Mitte zwischen Tripolis und der Rebellenhochburg Bengasi.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Die Küstenstraße zwischen Tripolis und Sirte sei inzwischen unter Kontrolle, sagte ein Militärsprecher der Übergangsregierung. Laut eigenen Angaben sind die Rebellen bis auf 30 Kilometer an Sirte herangerückt. Dazu erhielten sie am Wochenende erneut Unterstützung von der NATO durch Bombardements aus der Luft.

Den Kämpfern bereiteten mögliche Chemiewaffen und Raketen größerer Reichweite der Gaddafi-Truppen am meisten Kopfzerbrechen, zitierte der arabische Nachrichtensender al-Jazeera Fadl Harun, einen Befehlshaber der Rebellen. Im Falle eines Angriffs würden sie auf Unterstützung der NATO setzen: „Sobald die NATO den Weg freigemacht hat, werden wir auf Sirte vorrücken“, sagte Harun.

„Regime noch nicht gestürzt“

Der Chef der Übergangsregierung, Mahmud Dschibril, räumte ein: „Das Regime ist noch nicht gestürzt. Der Fall von Tripolis ist ein Symbol“, sagte er der arabischen Tageszeitung „Al-Schark al-Awsat“. Nach Angaben eines Rebellenkommandanten in Tripolis ist der Hauptgrenzübergang nach Tunesien zwar eingenommen worden. An der Küstenstraße, die nach Ras Adschdir führt, gebe es aber noch „einzelne Widerstandsnester. Das Problem ist: Wir haben nicht genug Leute, um alle Regionen gleichzeitig zu durchkämmen.“

Auch in Tripolis gab es noch vereinzelte Gefechte zwischen Rebellen und Gaddafi-Getreuen. Vor allem in der Nacht scheinen diese noch aktiv zu sein. Zugleich waren in der Nacht auf Montag auch mehrere Explosionen und der Überflug von NATO-Kampfflugzeugen zu hören.

Geschäfte machen wieder auf

Trotzdem hatten am Sonntag bereits wieder zahlreiche Geschäfte geöffnet. Junge Leute begannen damit, die Straßen zu reinigen und die Trümmer der Kämpfe zu beseitigen. Doch herrschte weiter Wassermangel, auch Strom gab es nur vorübergehend. „Wir werden die Krise überwinden. Hauptsache, wir haben den Tyrannen Gaddafi gestürzt“, zeigte sich Krankenpfleger Abdullah Mahmud in Tripolis entschlossen. Der Übergangsrat will die Engpässe schnell beheben. Er hat angekündigt, mit der Verteilung von 30.000 Tonnen Benzin sofort zu beginnen. Auch wird eine Lieferung von Diesel erwartet, um die Wasserversorgung wieder in Gang zu setzen.

Neue Grausamkeiten

Am Wochenende kamen weitere Grausamkeiten der Schlacht um Tripolis ans Licht. In einem Stadtteil sahen Fotoreporter ein Lagerhaus mit mehreren verkohlten Leichen. Anrainer berichteten, die Gaddafi-Truppen hätten in dem Gebäude Zivilisten gefangen gehalten. Als sie das Gelände nicht mehr hätten halten können, hätten sie das Gebäude angezündet.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erhob schwere Vorwürfe gegen die Sicherheitskräfte Gaddafis. Es gebe Beweise für willkürliche Hinrichtung von Häftlingen, als die Rebellen in die Hauptstadt Tripolis einrückten, teilte die Organisation am Sonntag mit. Gaddafi-Getreue hätten außerdem selbst medizinisches Personal getötet.

50.000 Häftlinge verschwunden

Der Übergangsrat sucht nach mehr als 50.000 Häftlingen, die spurlos verschwunden sind. Diese Gefangenen würden möglicherweise in unterirdischen Bunkeranlagen festgehalten, sagte Sprecher Schamsaddin Ben Ali. Nach der Einnahme von Tripolis hätten die Aufständischen auch in Krankenhäusern verkohlte Leichen Hunderter Gefangener gefunden.

Der Übergangsrat räumte knapp eine Woche nach dem Fall von Tripolis erstmals eine humanitäre Krise in der Hauptstadt ein. Ben Ali forderte deshalb am Sonntag alle im Ausland arbeitenden libyschen Ärzte auf, sofort in ihre Heimat zurückzukehren. Die Lage in den Krankenhäusern der Hauptstadt sei dramatisch, sagte Ben Ali. Neben Ärzten sei wegen der vielen Verletzten auch mehr Nachschub an Medikamenten und medizinischem Gerät notwendig, sagte der Sprecher dem arabischen Fernsehsender al-Jazeera.

Gaddafi bleibt verschwunden

Die Arabische Liga rief den UNO-Sicherheitsrat und alle betroffenen Länder dazu auf, Gelder des Gaddafi-Regimes jetzt freizugeben. Zuvor hatte erstmals seit sechs Monaten wieder ein Vertreter Libyens an einer Sitzung der Liga teilgenommen: der Chef der erst vor wenigen Tagen anerkannten Übergangsregierung, Dschibril.

Die Jagd nach Ex-Diktator Gaddafi macht derweil offenbar keine großen Fortschritte. Der Chef des Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, räumte ein, dass es derzeit keine gesicherten Informationen über den Aufenthaltsort des 69-Jährigen gebe. Ein Militärsprecher schloss Verhandlungen mit dem Diktator aus.

Links: