Themenüberblick

Eine Stadt mit eigenen Gesetzen

Eine „Insel im Roten Meer“ wurde die Stadt einmal genannt. Und über Jahrzehnte hinweg war sie so etwas wie der Gegenentwurf zur Erfüllung einer klassischen BRD-Biografie. Spätestens der Mauerbau 1961 machte West-Berlin zu einer Sonderzone, die nicht zuletzt viele männliche Studierende in den Bann zog, weil man im entmilitarisierten Berlin dem Wehrdienst entgehen konnte.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Dass es so etwas wie West-Berlin als eigenständige Einheit gibt, verdankt man eigentlich der Regierungskonferenz von Jalta im Februar 1945: Nach Beschluss der Alliierten wurde nicht nur Deutschland, sondern auch Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Nach der Schlacht um Berlin im April 1945 hatten die sowjetischen Streitkräfte ganz Berlin im Griff. Im Sommer 1945 zogen sich die Sowjets aus den Westsektoren zurück, und in die Westbezirke zogen Franzosen, Briten und Amerikaner ein.

1949: Westzone wird BRD

1949 entstand auf dem Boden der drei westlichen Besatzungszonen die Bundesrepublik Deutschland - „Groß-Berlin“ war da als Bundesland mit aufgelistet (ebenso die DDR). De facto band eine „Übergangsregelung“ den Westteil von Berlin an die Bundesrepublik.

Trotz der Sektorenaufteilung versuchten die vier Siegermächte eine Verwaltung unter einer gemeinsamen alliierten Kommandantur. Doch „Groß-Berlin“, so die Sprachregelung, war durch die Ost-West-Gegensätze keine regierbare gemeinsame Stadt. Die Luftbrücke 1948 zeigte dem Westteil der Stadt, dass man sich den Vereinnahmungsversuchen durch die Sowjets mit vereinten Kräften (und entsprechender Unterstützung aus der Luft) entziehen konnte.

Ab dem Mauerbau 1961 war es für West-Berliner unmöglich, in den Ostteil der Stadt zu gelangen, was erst später durch den kleinen Grenzverkehr gelockert wurde.

Eigenheiten einer geteilten Stadt

Spätestens ab den 1960er Jahren nahm West-Berlin einen eigenen Charakter als Stadt an. Die DDR-Regierung machte den Ostteil Berlins zum Zentrum ihrer Macht - im Vergleich zur übrigen DDR wurde dieser Teil finanziell und versorgungstechnisch besonders gefördert. Etwa die Hälfte des West-Berliner Finanzhaushalts wurde aus dem Bundeshaushalt bestritten, da West-Berlin wiederum als ein Aushängeschild des Westens gefördert wurde.

Leuchtkasten im Berliner Westen mit Wegpfeil zu einem China Restaurant und einem Porträt von Harald Juhnke

Wikipedia/Sir James

Kaum Charme, viel Flair: West-Berliner Straßenszene mit Harald Juhnke

Die West-Berliner „Gegen-Uni“

Der Ost-West-Konflikt sollte sich in den kommenden Jahren in der Positionierung typischer West-Berliner Institutionen niederschlagen. Besonders sticht hier die Gründung der Freien Universität (FU) Berlin 1948 im südwestlichen Stadtbezirk Dahlem hervor - da die traditionelle Humboldt-Universität mit ihrem Standort Unter den Linden im Ostteil der Stadt lag und noch vor dem endgültigen Auseinanderfallen beider Stadtteile an der Humboldt-Universität von studentischer Seite zunehmend politischer Einfluss kritisiert wurde.

Der damalige US-Militärgouverneur, Lucius D. Clay, setzte sich stark für eine Neugründung einer Universität im (amerikanisch kontrollierten) Westteil der Stadt ein. Und es ist wohl Ironie der Geschichte, dass in so manchem geisteswissenschaftlichen Fach der 1970er Jahre der Aspekt der Moskau- und Peking-Treue die Gretchenfrage politischer Gesinnung war.

Studieren in Insellage

Ende der 1960er Jahre war die FU, die zu einer der größten Universitäten Deutschlands aufgestiegen war, zum Zentrum der Außerparlamentarischen Opposition geworden. Sowohl der bei der Anti-Schah-Demonstration ums Leben gekommene Student Benno Ohnesorg als auch Rudi Dutschke waren an der FU eingeschrieben. Für den Osten war die FU immer nur „die Freie Universität“ Berlins. Auf der anderen Seite belauerte man sich stets - etwa, ob Humboldt oder FU mehr Ordinarien in einem Fachgebiet aufstellen konnten als der „Systemfeind“.

„Ecke Joachimstaler“

„West-Berlin Neunzehnhundert-sechzig-sieben/Erster Eindruck, grüne Minna Straßensperre gegen Spinner/Habt ihr Bock auf ‘ne Tracht Prügel/Wir bedienen euch nicht übel, aha/Ecke Joachimstaler Ku’damm ein Exzess/Wer das Gas als Letzter riecht/Hat als Erster den Prozess/Ganz Berlin ist eine Wolke/Und man sieht sich wieder mal auf der Flucht“

Falco: „Auf der Flucht“ (Album „Einzelhaft“, 1981)

Flucht vor dem Wehrdienst

West-Berlin war eines der „Auswanderungsziele“ der westdeutschen Jugend und ein Ziel der Wehrdienstverweigerer. Dazu musste der wehrpflichtige junge Mann rechtzeitig vor dem Einberufungsbescheid der Bundeswehr seinen Wohnsitz nach Berlin verlegen und damit den westdeutschen Personalausweis gegen einen Berliner Ausweis (offiziell als „Behelfsmäßiger Personalausweis“ bezeichnet) tauschen.

Die Schaubühne: Kultur made in West-Berlin

Im Bereich der Kultur entstanden auch typische West-Berliner Institutionen wie etwa die Berliner Schaubühne. Regisseur Peter Stein, der in den 1970er Jahren die Leitung der 1962 gegründeten Schaubühne am Halleschen Ufer übernommen hatte, zog nach Erfolgen bei Kritik und Publikum zu einem neuen Standort: von einem ehemaligen Heim der Arbeiterwohlfahrt in einen prestigeträchtigen Kinopalast aus den 1920er Jahren von Architekt Erich Mendelsohn, ums Eck vom Kurfürstendamm.

Die Schaubühne in Berlin 1979

picturedesk.com/Ullstein Bild/ullstein - Binder

Ein Kino aus den späten 1920er Jahren von Erich Mendelsohn sollte ab 1981 eine der großen deutschen Theaterbastionen beheimaten

Der Kurfürstendamm wurde überhaupt zum Gegenentwurf der 1920er-Jahre-Einkaufsstraßen wie Unter den Linden und der Friedrichsstraße. Im Zoo-Palast residierten alljährlich die Berliner Filmfestspiele, und auch sonst versuchte man dem Boulevard zwischen Schöneberg und Wilmersdorf einen Hauch von Pariser Flair einzuhauchen.

Straßenszene in der Nacht, im Hintergrund die Kaiser Wilhelm Kirche

Corbis/Bettmann

Der Ku’damm: Eine Art Champs-Elysees auf Berlinerisch

Die Kinder vom Bahnhof Zoo

Ums Eck des Kurfürstendamms wurde der Bahnhof Zoo zu einem beinahe ikonografischen Ort der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. Der Film „Christiane F.“ brachte das Bild eines anderen Berlins in Umlauf: das des Drogen- und Kinderstrichs zwischen Bahnhof Zoo und Kurfürstenstraße. Die Geschichte der Christiane Felcherinow, die im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern von Hamburg nach Neukölln gezogen war, machten die „stern“-Redakteure Kai Hermann und Horst Rieck zum öffentlichkeitswirksamen Thema. 1981 verfilmte Uli Edel die Autobiografie der jungen Frau unter dem Titel „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ mit Natja Brunckhorst in der Hauptrolle und der Musik von David Bowie. Dessen Song „Heroes“ war wenige Jahre davor im Zuge der Arbeit an seiner Berlin-Trilogie in den Hansa-Studios im Berliner Stadtteil Kreuzberg entstanden.

Das Hansa-Studio sollte ab den 1970er Jahren ohnedies eine Anzahl von Musikschaffenden anziehen. Wer im Olymp des Pops etwas zu sagen hatte, der hatte auch in Kreuzberg in den Hansa-Studios vorbeizuschauen. Eine der Mittlerfiguren dabei war Brian Eno. Als er die notorischen Gut-Rocker von U2 nach Berlin brachte, die 1991 in den Hansa-Studios ihr Album „Achtung, Baby“ aufnahmen, war die Mauer freilich gefallen.

Herr Lehmann und der Fall der Mauer

In manchen Kreisen West-Berlins wurde der Mauerfall ohnedies wie ein besserer Betriebsunfall der Geschichte wahrgenommen. Konsterniert nimmt „Herr Lehmann“ aus Sven Regners gleichnamigem Roman das Purzeln der Mauer zur Kenntnis.

Ihm wird zeitverzögert klar, dass die gefallene Berliner Mauer nicht nur die Bekanntschaft mit „Sven aus Eberswalde“ stiften, sondern eine wunderschöne Biografie des Abtauchens vor einer Karriere im Zuschnitt der Eltern vernichten würde. Fortan wird auch Berlin-Mitte nicht mehr nur Berlin-Mitte sein, sondern auch ein homogenisiertes Stück Düsseldorf.

Links: