Krise treibt Bevölkerung auf die Straße
Jahrelang hat Alexander Lukaschenko, der vom Westen als „letzter Diktator Europas“ kritisierte Langzeitpräsident von Weißrussland, das Vertrauen und Popularität in der Bevölkerung genossen. Damit ist es nun vorbei. Seit einigen Wochen finden Proteste in der Hauptstadt Minsk und erstmals auch in anderen Städten statt. Die wirtschaftliche Situation bringt den autoritären Herrscher in die Bredouille.
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An jedem Mittwoch gehen Hunderte Menschen auf die Straße. Die Demonstranten sind stumm, ab und zu wird das Schweigen durch spontanes Klatschen und Handyklingeln unterbrochen. Nicht die bisherige, zersplitterte Opposition, sondern eine junge Gruppe weißrussischer Studenten aus Polen organisiert die Proteste über Soziale Netzwerke wie VKontakte.ru nach dem Vorbild des arabischen Frühlings, erklärt Maryna Rakhlei. Auch das sei eine Neuerung, betonte die weißrussische Politologin und Journalistin der unabhängigen Agentur Belapan im ORF.at-Interview.
Rund 2.000 Demonstranten verhaftet
„Alle wissen, worum es geht“, so Rakhlei, zudem wären laute Proteste wegen der Polizei zu gefährlich. Kundgebungen mit Sprechchören und Transparenten wurden bisher immer brutal niedergeschlagen. Lukaschenko bezeichnete die Proteste als vorübergehende Panikreaktion, zeigt aber dennoch keine Toleranz. Seit Juni sind rund 2.000 Demonstranten vorübergehend verhaftet worden. Immer wieder setzte die Polizei - oft in Zivil - auch Tränengas und Schlagstöcke ein.

Reuters/Vasily Fedosenko
Ein Demonstrant in Minsk wird von Beamten in Zivil abgeführt.
„Familien arrangieren sich untereinander. Wer Zeit hat, für zwei Wochen ins Gefängnis zu gehen, geht demonstrieren“, sagt Rakhlei. Durch fehlende Erkennungszeichen der Demonstranten werden auch Unbeteiligte verhaftet, was die Angst vor dem Regime weiter schürt. Das sei auch ein Grund, warum vor allem die ältere Bevölkerung immer weniger zu den Protesten gehe, so Olga Schumylo-Tapiola, Visiting Scholar bei Carnegie Endowment in Brüssel, gegenüber ORF.at. Selbst als Zuschauer bei der Rede Lukaschenkos im 17. Jahr seiner autoritären Herrschaft zum Nationalfeiertag Anfang Juli klatschten, wurden sie wegen „eigenmächtigen Applaudierens“ abgeführt.
„Lukaschenko verliert die Zügel“
„Lukaschenko verliert zusehends die Zügel und steht mit dem Rücken zur Wand“, analysiert Alexander Rahr, Leiter des Kompetenzzentrums für Russland, Ukraine, Belarus und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), gegenüber ORF.at. Bisher waren die Probleme nicht so katastrophal, sagt der Experte. Minsk habe sich bisher mit Hilfe von Moskau über Wasser halten können. „Lukaschenko baute aus Weißrussland einen sowjetischen Staat wieder auf, etwas liberaler, mit ökonomischen Benefits und stabil“, erklärte Schumylo-Tapiola, wie sich Lukaschenko solange an der Macht halten konnte.
Die wirtschaftliche Situation der Planwirtschaft geriet nun allerdings außer Kontrolle. Die Schulden explodierten, Devisen sind nicht mehr zu bekommen. Durch die Rekordabwertung des Rubels ist vieles nicht mehr finanzierbar. „Das erklärt auch den großen Zulauf zu den Protesten“, ist Rakhlei überzeugt. Die einen kämen wegen der Forderung nach mehr Menschenrechten, die anderen, weil sie ihren Alltag nicht mehr bezahlen können.
Sowjetische Wende-Hymne verboten
Rahr befürchtet, dass Lukaschenko auf irrationale Entscheidungen zurückgreifen werde. Schon jetzt wettere er im Rundfunk gegen weißrussische Geologen, die noch immer kein Erdöl im Land gefunden hätten. Rahr: „Er verliert die Bodenhaftung.“ Und er ist nervös. Zuletzt verbat das Regime, die sowjetische Hymne der Wende im Land zu spielen. Das Lied „Chotschu Peremen“ („Ich will Veränderungen“) wurde zensiert. Offenbar wird befürchtet, dass sich das Lied auch als Hymne für einen Wechsel in Weißrussland entwickeln könnte.
Vergleichbar mit Ägypten
Der deutsche Experte Rahr erkennt nicht zuletzt aufgrund der Wirtschaftskrise und der radikalen Verschlechterung des Lebensstandards Ähnlichkeiten mit den Revolutionen im arabischen Raum insbesondere in Ägypten: „Die Bevölkerung zeigt Solidarität mit den politisch motivierten Protesten. Über die wirtschaftliche und soziale Not wächst sich die Protestbewegung aus.“

Reuters/Sergei Grits
Lukaschenko kurz nach seiner Wiederwahl im Jänner
Wie bisher werde sich Lukaschenko nicht halten können, ist Rahr überzeugt. Er müsse Macht abgeben. Einen möglichen Nachfolger Lukaschenkos sieht Rahr aufgrund der Gesellschaftsstruktur in Weißrussland wieder aus dem System kommend - ähnlich wie Boris Jelzin in Russland.
Bei der Opposition habe es noch niemand geschafft, diese zu vereinen. Zudem sei diese seit der Präsidentschaftswahl Ende vergangenen Jahres und den folgenden Festnahmen noch nicht wieder gefestigt, betonte Shumylo-Tapiola. Es fehle die Unterstützung in der Bevölkerung.
Machtverlust wahrscheinlich
Lukaschenko ist aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten gezwungen, zu handeln. Die bisherige Politik, Russland und den Westen gegeneinander auszuspielen, funktioniert nicht mehr, sind die Experten überzeugt. Von wem auch immer er die notwendige Hilfe bekommt, sie wäre laut Rahr mit einem Machtverlust verbunden. Erhält der weißrussische Machthaber für sein Land Unterstützung vom Internationalen Währungsfonds (IWF), erwartet dieser Privatisierung, Marktwirtschaft und mehr Demokratie.
Aber auch Russland legt nicht zuletzt vor dem langsam startenden Wahlkampf vor der nächsten Präsidentschaftswahl eine härtere Gangart ein. „Moskau will das Nachbarland nicht mehr subventionieren“, erklärt Rahr, indem Weißrussland billiges Gas und Öl aus Russland veredelt und teuer auf dem Weltmarkt weiter verkauft. Russland ist bereit, finanzielle Unterstützung zu geben - in den kommenden drei Jahren sind Kredite in der Höhe von rund zwei Milliarden Euro zugesagt. Im Gegenzug wird aber eine Reintegration Weißrusslands in die Region und in die russische Rubel-Zone angestrebt.
Privatisierung zum Überleben?
„Damit würde Lukaschenko seine wirtschaftliche und politische Souveränität verlieren“, sagte Rahr. Er tue deshalb gar nichts und „dreht sich nur im Kreis“. Das könnte bei einer so schnellen Dynamik brenzlig werden, fürchtet der Politologe. Shumylo-Tapiola widerspricht dieser Einschätzung: „Russland möchte ein stärkerer Akteur werden. Das geht nur durch ökonomischen Einfluss.“ Russische Investoren in Weißrussland bedeuten ihrer Ansicht nach aber nicht, dass Lukaschenko seine Souveränität verliert.
„Stimmt Lukaschenko Privatisierungen zu, kann er sich kurzfristig halten“, glaubt die Weißrussland-Expertin. Russland sei interessiert daran, die Wirtschaft könnte dadurch stabilisiert werden. Mittel- und langfristig wolle Moskau aber jemanden haben, der kooperativer ist als Lukaschenko, glaubt Shumylo-Tapiola.
„Heißer Herbst“ wahrscheinlich
Die ukrainische Politologin sieht mehrere Szenarien für Weißrussland. Lukaschenko könne durch eine Kombination mehrerer Faktoren zum Rücktritt gezwungen werden - von den Demonstranten und von zwei konkurrierenden Gruppen in seinem nahen politischen Umfeld. Die einen setzten sich für eine wirtschaftliche Öffnung ein, die andere dränge Lukaschenko in Richtung Russland. Zudem gebe es Gerüchte, dass der Diktatur schwer krank sei.
„Viele erwarten einen heißen Herbst“, sagt auch Rakhlei. Denn im Oktober werde die zentrale Heizung für alle eingeschaltet. Ausschalten kann man sie individuell nicht, aber die Rechnungen müsse jeder bezahlen - und die werde in diesem Jahr um einiges teurer sein als zuletzt. Die Proteste werden weitergehen, ist Rakhlei überzeugt, - allein schon wegen der wirtschaftlich aussichtslosen Situation.
Simone Leonhartsberger, ORF.at
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