„Künstlich erzeugtes Problem“
Das Kopftuch könnte nach der Wahl in der Türkei am 12. Juni Einzug ins Parlament der laizistischen Republik halten. Denn es gibt kein klares Kopftuchverbot fürs Plenum, nur ungeschriebene Gesetze. Und die reichen nicht mehr. Das gesellschaftliche Klima in der Türkei hat sich so stark gewandelt, dass kein ernsthafter Widerstand gegen den islamischen Schleier im Parlament zu erwarten ist.
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Das war nicht immer so. Als die frischgebackene Abgeordnete Merve Kavakci nach der Wahl von 1999 mit Kopftuch zur Vereidigung im Parlament erschien, gab es lautstarke Proteste säkularistischer Abgeordneter. Der Tumult zwang Kavakci schließlich, das Plenum unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Kurz darauf entzog der Staat ihr das Abgeordnetenmandat - und ihre türkische Staatsbürgerschaft gleich mit.
Auch heute noch sehen hartgesottene Säkularisten das Kopftuch als Symbol des politischen Islam, das aus öffentlichen Institutionen herausgehalten werden müsse. Doch sie können sich kaum noch durchsetzen. Seit 1999 hat die früher bestimmende säkularistische Elite viel von ihrer Macht eingebüßt.
Rock und Jackett als korrekte Kleidung
Unter der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat das Land den Aufstieg einer neuen, religiös-konservativen Führungsschicht erlebt, die den alten Eliten den Platz streitig macht. Das gesellschaftliche Klima hat sich so nachhaltig verändert, dass Kandidaten wie Ünsal darauf hoffen dürfen, bei einem Wahlerfolg ihr Mandat auch mit Kopftuch behalten zu können.
„Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, sich um einen Parlamentssitz zu bewerben“, sagt Ünsal. Rechtliche Hindernisse sieht sie nicht: Die Bekleidungsvorschriften der Großen Türkischen Nationalversammlung legen für weibliche Abgeordnete zwar Rock und Jackett als korrekte Kleidung fest, doch von einem Kopftuch ist nicht die Rede.
Ünsal ist Gründungsmitglied von Erdogans AKP. In der Politik sei alles möglich, antwortete Erdogan im vergangenen Jahr auf die Frage nach Abgeordneten im Kopftuch. Klarer hat er sich bisher nicht geäußert. Erdogan erinnert sich nur zu gut daran, dass das säkularistisch geprägte Verfassungsgericht erst vor drei Jahren seine Regierungspartei fast verboten hätte - unter anderem wegen eines Vorstoßes zur Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten.
Bevölkerung laut Umfragen gegen Kopftuchbann
Doch seitdem hat sich viel getan. Der Kopftuchbann an den Unis wurde im vergangenen Jahr fast lautlos per Verwaltungsentscheidung beerdigt. Ein Aufstand der Säkularisten blieb aus. Denn selbst die Säkularistenpartei CHP hat inzwischen eingesehen, dass sie sich mit einem strikten Nein zum Kopftuch von allen Hoffnungen auf eine Regierungsübernahme verabschieden kann. Zwar will die CHP im Juni keine Kopftuchkandidatinnen aufstellen. Die Partei hat aber betont, einen Aufstand wie damals bei Kavakci werde es nicht noch einmal geben.
Angesichts der Tatsache, dass zwei von drei türkischen Frauen ihr Haar bedecken, habe die CHP gemerkt, „dass sie sich nicht gegen das Volk wenden kann“, sagt Ünsal. Sie habe Umfragen gelesen, nach denen vier von fünf Wählern das Kopftuch im Parlament zulassen wollten. Und im Verfassungsgericht haben die Säkularisten nach einem per Referendum durchgesetzten Umbau auch an Einfluss verloren.
Wahlplakat zeigt Kandidatin mit Kopftuch
Überhaupt ist die türkische Gesellschaft gelassener geworden, was das Kopftuch angeht. Noch vor wenigen Jahren beklagten Ünsal und andere Kritiker, der Frauenverband KA-DER, der sich für mehr weibliche Repräsentanz im Parlament einsetzt, weigere sich, für „Kopftuch-Frauen“ einzutreten. Im aktuellen Wahlkampf wirbt KA-DER unter anderem mit dem Bild einer kopftuchtragenden Frau um Stimmen für weibliche Kandidaten.
Für Ünsal sind diese Veränderungen ein Zeichen dafür, dass die zu 99 Prozent muslimische Türkei zu sich selbst findet. Wie sie wollen noch mehr als 20 andere Kopftuchfrauen für die AKP ins Parlament. „Künftig wird das Kopftuch normal sein“, sagt Ünsal. „Der Streit ist ein künstlich erzeugtes Problem.“
Susanne Güsten, APA