„Meine Nabelschnur zum Leben“
Gerhard Roth sagt im Interview mit ORF.at, er würde seine harte Kindheit in Graz nicht gegen eine tauschen wollen, die Kinder heute hinter dem Nintendo verbringen. Die Fantasie wird unterdrückt - und das echte Leben ausgesperrt - und zwar nicht nur aus dem Alltag der Kinder, konstatiert Roth.
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ORF.at: Wie haben Sie als junger Mensch und Schriftsteller die zehn Jahre am Rechenzentrum Graz ausgehalten?
Gerhard Roth: Ich hatte eine Familie mit drei Kindern und hatte bereits im Alter von 21 Jahren geheiratet. Ich war es also der Familie schuldig, diese Arbeit anzunehmen. Außerdem habe ich dort auch großartige Erfahrungen gemacht. Ich lernte Programmieren und setzte mich intensiv mit der binären Logik, der Bool’schen Algebra auseinander und mit der Philosophie, die mit der Datenverarbeitung verbunden ist, der Kybernik.
Das war die Zeit, als die Datenverarbeitung in Österreich noch in den Kinderschuhen steckte. Wir hatten damals denselben Großrechner, der auch in Cape Canaveral stand. Die ersten vier, fünf Jahre war das für mich ein Abenteuer - so lange, bis der tägliche Trott eintrat. Ab diesem Zeitpunkt überlegte ich ständig, wann ich aufhören könnte.
ORF.at: Sie schreiben viel über das Lesen, das Flanieren, die Gespräche mit Freunden. Wie haben Sie das neben der Familie und dem Job in der Intensität betreiben können, die für das spätere Verfassen Ihrer Bücher vonnöten war?
Roth: Ich brauchte den Alltag - und gleichzeitig belastete er mich. Es war wichtig, dass die Kinder in die Schule gingen und ich mich mit ihren Problemen auseinandersetzte. Mit ihnen zu sprechen war meine Nabelschnur zum Leben.
Die ist mir bis heute geblieben – und das setzt sich bei den Enkelkindern fort. Sie halten mich sogar am Laufenden, was technische Geräte betrifft. Ich weiß jetzt auch, wie Kinder mit einem Nintendo spielen oder welche Möglichkeiten es beim Computerspielen gibt. Das verschafft mir das Gefühl, ich sei nicht aus der Zeit herausgefallen.
Wenn die Kinder zusammenkommen, spielen sie mit ihren Nintendos oder iPhones. Es nervt mich zwar, dass sie nicht miteinander reden und spielen, aber so scheint eben die Entwicklung zu laufen.
ORF.at: Sie schreiben in Ihren Büchern viel über scheinbare Normalität und Außenseitertum. Wenn man heute seinen Kindern das Nintendo-Spielen verbietet, fällt man aus dieser Normalität heraus.
Roth: Ich mische mich auch überhaupt nicht ein. Ich will begreifen, was sie machen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass ein Teil des subjektiven Erlebens verloren geht. Die Kindheiten, so wie wir sie gehabt haben, mit allen ihren Problemen, verschwinden. Man geht jetzt schon mit drei Jahren „in die Hacke“, wie ich das nenne, wenn Kinder in den Kindergarten gehen müssen in aller Früh und dort abgestellt werden. Die haben dort eine Einheitserziehung - und am Abend, wenn sie nach Hause kommen, sind die Eltern schon erschöpft.
Am Wochenende brauchen die Eltern dann Zeit, um sich zu regenerieren, und machen oft nur aus schlechtem Gewissen mit den Kindern irgendetwas nebenher.
Genauso verschwindet das Alter aus der öffentlichen Wahrnehmung, weil alte Menschen in Heime kommen. Die Geisteskranken sind längst verschwunden, die sind alle schon in Heimen. Bettelverbote gibt es auch - weil man die Armut nicht mehr sehen soll. Der Tod wurde in den Spitälern zu etwas Anonymem. Früher war der Tod ein wichtiger Moment. Das heißt nicht, dass ich dem nachtrauere und jedem empfehlen will, sich Sterbende anzuschauen. Aber es ist damit ein weiteres Element verloren gegangen, das notwendig ist, um Empathie zu empfinden.
Die Kinder sehen die Alten nicht mehr älter werden. Das, was die Alten noch imstande wären, den Jungen zu geben, wird nicht mehr wahrgenommen. Für mich waren die Großeltern wichtiger als die Eltern. Meine Großeltern konnten wunderbar erzählen. Sie kamen aus einer ganz anderen Welt und hatten eine ganz andere Herkunft als ich. Sie übersetzten mir ihre Welt in meine Sprache.
ORF.at: Die Großmutter war auch die Erste, die Sie zum Schreiben ermutigt hat?
Roth: Ohne sie könnte ich meine Kindheit nachträglich nicht schön finden. Ich kann mir keine Biografie vorstellen, in der ich nur im Kindergarten gewesen wäre. Ich glaube, ich hätte dort versagt. Später in der Schule hatte ich große Schwierigkeiten - sie hätten wahrscheinlich im Kindergarten einfach noch früher angefangen.
Das Spielen geht auch verloren. Schon drei Stück Holz haben unsere Fantasie angeregt. Was länger war, war ein Gewehr, was breiter war, ein Schiff. Heute sind Spiele Zeittotschläger. Was gibt es zu entdecken? Wir sind auf den Friedhof gelaufen und haben plötzlich einen aufgebahrten Menschen gesehen. Damals hat man noch den Deckel bis zum Begräbnis weggenommen. Die alten Menschen sind im Wirtshaus herumgesessen, haben geschimpft und waren noch mit 80 betrunken und haben über ihre großen Abenteuer erzählt.
Auf jedes einzelne Element könnte ich zwar verzichten. Aber im Gesamten finde ich, dass das Leben heute steriler geworden ist.
ORF.at: Die Kinder erleben viel beim Computerspielen - aber alle dasselbe.
Roth: Wir haben auch alle dieselben Märchen gehört. Diese Verbindungen gab es also schon damals. Aber heute sind die Kinder oft passiv. Sie bekommen bei ihren Computerspielen vorgefertigte Raster vorgesetzt. Wenn wir gespielt haben, haben wir auch Spiele erfunden. Wir haben genau so Fußball gespielt, wie wir es wollten. Es gab Fouls, und es gab Gefühle anderen Menschen gegenüber.
Ich würde dieses wohlbehütete, wunderbare Leben, das manche Kinder, denen es besser geht, heute haben, nicht gegen meine Kindheit neben dem Müllabladeplatz tauschen wollen. Da habe ich wenigstens den Eindruck: Ich habe zehn Jahre lang gelebt. Ich habe diese zehn Jahre übrigens fast vergessen, aber sie sind zurückgekehrt. Jetzt ist meine Kindheit ein wichtiger Baustein in meinem Leben.
ORF.at: Aber man musste auch viel aushalten in diesen Strukturen. Sie haben in „Orkus“ Ihre Schwiegermutter erwähnt, die wegen des Stromverbrauchs geschimpft hat, wenn Sie abends mit Licht gelesen und geschrieben haben. Ist das die Kehrseite?
Roth: Ja. Aber wir haben dadurch auch sehr früh kennengelernt, dass wir nicht in einer Glasglocke leben, sondern dass das Leben rundherum sehr hart ist. Das gehörte dazu. Wir wollten schon als Kinder immer in das Erwachsenenleben eindringen. Das Erwachsensein hatte einen Zauber für uns - auch wenn Erwachsene unverständliche Dinge getan haben. Das waren Einblicke für uns in eine andere Welt.
Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at
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