Wer über die Zukunft entscheidet
Während das Regime von Staatschef Muammar al-Gaddafi rund um die Hauptstadt Tripolis noch ums Überleben kämpft, haben im Osten schon Gespräche begonnen, wie die Zukunft des Landes ohne Al-Gaddafi aussehen könnte. Bei einem Treffen in al-Baidha sprachen Führer der einflussreichen Stämme über eine Kooperation und wie die Einheit des Landes garantiert werden kann. Vorerst dürften sie an einem Strang ziehen.
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Etwa 140 Stämme und Clans, viele davon mit etlichen Unterstämmen, gibt es in Libyen, davon haben etwa 30 größeren Einfluss. Experten sind sich einig, dass in dem Land, dem alle sonstigen Strukturen und Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften fehlen, die Stammesstruktur zumindest in einer Übergangsphase die einzige Ordnungskraft darstellen könnte.
Stämme demonstrieren Einigkeit
Bei dem Treffen Ende Februar hätten die Stämme klargestellt, dass es keine Konflikte über die zukünftige Machtverteilung unter ihnen gebe, berichten al-Jazeera und die BBC. Zudem seien die Einheit Libyens und die Opposition zum Regime von Al-Gaddafi betont worden. Häufig sei das Treffen durch Applaus und „Libyen, Libyen“-Rufen unterbrochen worden. Der Tisch sei von der alten Flagge des Landes geschmückt worden, die auch bei den Protesten immer wieder zu sehen ist.
Anwesend war bei dem Treffen auch der zurückgetretene Justizminister Mustafa Abdel Dschalil, der sich offenbar als Führungsfigur in Stellung bringt: „Keine Verhandlungen und keine Lösung, bis Al-Gaddafi und seine Söhne gehen“, sagte er. Auch ein zweites Ex-Mitglied von Al-Gaddafis Regierung bringt sich offenbar in Stellung: Der ehemalige Innenminister Abdel Fattah Junis al-Obeidi, der zu dem im Osten ansässigen Al-Obeida-Clan gehört, versucht sich als Führungsfigur im Osten des Landes darzustellen.
Bindung an Stämme abgeschwächt
Ob es innerhalb kürzester Zeit gelingt, das Machtvakuum bei einem Sturz des Regimes zu füllen und eine funktionierende Ordnung wiederherzustellen, gilt als größte Herausforderung der Revolution.
Auch hier sollen die Stämme ein gewichtiges Wort mitreden. Nur geschätzte 15 Prozent der Libyer sind nicht diesen Stämmen zuzuordnen, im Wesentlichen sind das vor allem die nicht arabischen Volksgruppen. Im Nordosten des Landes sind das die Berber, im Südosten die Tuareg und im Südwesten die Tibbu. Dazu gehören freilich die Hunderttausenden Gastarbeiter, vor allem aus Ägypten.
Mittlerweile gibt es aber auch Stimmen, die davor warnen, den Einfluss der Stämme zu überschätzen. Die Bemühungen Al-Gaddafis und die Modernisierung des Landes hätten die Bindung schwächer werden lassen, hieß es in einer Analyse der BBC. Verstädterung durch den Aufstieg der Ölindustrie hätte die traditionelle Lebensweise zurückgedrängt, auch die Bildungsoffensive der vergangenen Jahrzehnte habe dazu beigetragen. Ein Ölarbeiter oder Soldat werde demnach zwar hören, was der Führer seines Stammes zu sagen hat, ob er sich an die Vorgaben hält, sei aber letztlich eine persönliche Entscheidung.
Größter Stamm als Erster in Opposition
Mit rund einer Million Mitgliedern gilt Warfalla mit dem Zentrum im Westen des Landes als größter Stamm – und er wandte sich als erster von Al-Gaddafi ab und forderte ihn auf, das Land zu verlassen. Die Aussagen der Stammesführer veranlassten auch andere Stämme, den Machthaber, der über Jahrzehnte versucht hatte, den Einfluss der Stämme einerseits zurückzudrängen und sie andererseits über Posten und Geld geneigt zu halten, fallenzulassen.
So schloss sich der Sawija-Stamm an, der auch gleich drohte, in dem von ihm kontrollierten Gebiet den Ölhahn abzudrehen. Warfalla-Mitglieder waren es auch, die gemeinsam mit Vertretern des befreundeten Al-Sintan-Stammes 1993 bei einem Umsturzversuch scheiterten.
Verstrickungen mit Regime
Eine strategisch wichtige Rolle kommt dem Megariha-Stamm zu, der die engste Verbindung zum Regime hält, schrieb die Zeitung „Al-Schark al-Awsat“. Zahlreiche seiner Mitglieder sind in hohen Positionen im engsten Kreis Al-Gaddafis wie auch im Militär. Der verurteilte Lockerbie-Attentäter Abdelbaset Ali al-Megrahi gehört diesem Stamm an, seine Rückkehr nach Libyen rechneten Stammesführer dem Staatschef hoch an. Auch Abdelsalam Dschallud, lange die Nummer zwei im Land, bis er in den 90er Jahren in Ungnade fiel, gehört dem Stamm an. Die Haltung des zweitgrößten Stammes zu den Umwälzungen ist noch unklar, junge Mitglieder schlossen sich den Protesten allerdings an.
Al-Gaddafis Stamm früher unwichtig
Al-Gaddafis eigener Gaddafa-Stamm galt eigentlich als klein und vergleichsweise unbedeutend. Allerdings hievte er zahlreiche Mitglieder in wichtige Militärposten. Vor allem die Luftwaffe wird von ihnen dominiert. Im Osten - obwohl er heißt wie eine Stadt im Westen - wiederum gilt der Misrata-Stamm als sehr einflussreich.
Auch der Al-Awakir-Stamm ist hier beheimatet, der sich schon im Kampf gegen die osmanische Herrschaft seit dem 16. Jahrhundert einen Namen gemacht hatte. Neben dem Al-Obeida-Clan und einigen weniger einflussreichen Stämmen ist dort auch Masamir ansässig. Der Stamm ist für eine strengere Auslegung des Islam bekannt und wird des Öfteren genannt, wenn vor einem Erstarken der Islamisten im Land gewarnt wird.
Wechselnde Allianzen
Geprägt ist und war die Politik der Stämme jedenfalls von wechselnden Allianzen. Wichtiger Knotenpunkt ist der Einfluss der einzelnen Clans im Militär. Allerdings hielt Al-Gaddafi die Armee über Jahre bewusst klein, um keine Konkurrenz in der Machtfrage zu bekommen, meinte Noman Benotman, ein in London lebender Dissident.
„Dafür gibt es eine Reihe paramilitärischer Formationen, auch verstärkt durch afrikanische Söldner, die der Al-Gaddafi-Familie treu geblieben sind“, erklärte Benotman. Die Kontrolle über diese wurde zumeist Söhnen von Al-Gaddafi übertragen.
Söldner als Machtfaktor
Die Söldner waren es auch, die für die Gemetzel an Zivilisten in den vergangenen Tagen verantwortlich waren. Die Schätzungen über ihre Stärke divergieren stark, in Medien kursierende Zahlen von 30.000 Mann scheinen aber weit übertrieben.
Mit dem Sieg über das Regime im Osten des Landes sind jedenfalls auch etliche Militärstützpunkte und damit Waffen in die Hand der Aufständischen gefallen – ein Faktor, der dann eine gewichtige Rolle spielen könnte, wenn sich die Auseinandersetzungen weiter zuspitzen.
Christian Körber, ORF.at
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