Nur Stammesstruktur etabliert
Auch in Tunesien und Ägypten hatten sich die mittlerweile gestürzten Machthaber als einzige Garanten für die Stabilität des Landes dargestellt. Selbstüberschätzung oder Propagandarhetorik, urteilten Experten. In Libyen könnte die Sache anders aussehen: Staatschef Muammar al-Gaddafi hatte verhindert, dass eine politische Struktur außer seinem Machtapparat entstehen kann. Für ein Libyen nach Al-Gaddafi bedeutet das eine ungewisse Zukunft.
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Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten gab es zwar geschwächte, aber doch vorhandene und in Parteien organisierte Oppositionen, die noch dazu über politische Führungspersönlichkeiten verfügten. In Libyen gibt es das alles nicht: keine Parteien und auch keine wie auch immer gearteten Institutionen in der Gesellschaft, die einen friedlichen politischen Übergang begleiten könnten.
Von der Basisdemokratie zur Diktatur
Am 1. September 1969 putschte eine Gruppe junger Offiziere um Al-Gaddafi den greisen König Idris I. al-Senussi vom Thron. Fortan beschritt Libyen einen arabischen Sonderweg. Al-Gaddafis „Dritte Universaltheorie“ als Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus genießt in Libyen quasi Verfassungsrang. Statt Parteienpluralismus herrscht eine Art Basisdemokratie. Theoretisch geht alle Macht von Volkskomitees aus. Praktisch wurden sämtliche Entscheidungen von Al-Gaddafi selbst und seinen engsten Vertrauten, darunter sein Familienclan, getroffen.
Das System verhinderte die Ausbildung eines auch nur rudimentären politischen Systems, das es ansonsten in fast jedem Land gibt. Politische Gruppen mag es da und dort geben, institutionalisieren konnten sie sich in dem Land nicht. Al-Gaddafi ließ das nicht zu: Gegner wurden mit harter Hand unterdrückt, viele flohen ins Ausland.
Was machen die Stämme?
Traditionell sind die Libyer in Stammes- und Familienclans organisiert - und das sind die einzigen Gesellschaftsstrukturen, die sich auch über die lange Herrschaftszeit des Staatschefs hielten. Al-Gaddafi achtete bei der Verteilung von Macht und Posten darauf, dass die komplizierte Stammesstruktur seines Landes nicht aus dem Gleichgewicht geriet.
Wie die einzelnen Stämme auf ein Machtvakuum reagieren könnten, ist pure Spekulation: Fehlt eine Ordnungskraft für das ganze Land und konzentrieren sie sich auf das von ihnen traditionell kontrollierte Gebiet, könnte Libyen zerfallen. Machen einzelne Clans Machtansprüche über weitere Regionen oder gar das ganze Gebiet geltend, bleibt abzuwarten, wie eine Einigung aussehen könnte. Die reichen Ölvorkommen des Landes würden solche Konflikte wohl massiv anheizen, selbst gewaltsame Auseinandersetzungen gelten dann als möglich.
Islamisten im Osten
Hinzu kommt, dass in einigen Gebieten des Landes, vor allem im Osten, auch Islamisten nach mehr Einfluss streben. Bisher war Al-Gaddafi mit aller Härte gegen sie vorgegangen.
„Jede Nach-Al-Gaddafi-Periode ist mit großen Unwägbarkeiten verbunden“, warnte auch der Nahost-Experte Philip McCrum. „Es gibt keine organisierte Opposition, keine bürgerlichen Institutionen, um die sich die Menschen normalerweise scharen können.“ Es würde daher lange dauern, bis sich eine neue politische Ordnung herausbilde - mit heftigen Machtkämpfen zwischen Stämmen, Militärs, Islamisten und Liberalen.
Militär keine stabilisierende Kraft
Nicht ganz zu Unrecht hatte auch Al-Gaddafis Sohn Saif al-Islam bei seiner Fernsehrede in der Nacht auf Montag genau davor gewarnt - freilich mit dem Ziel, mit Drohungen die Bevölkerung von weiteren Protesten abzuhalten. Das Land könnte auseinanderfallen. „Libyen ist nicht wie Tunesien oder Ägypten“, sagte Saif al-Islam. „Hier gibt es Stämme, Clans und Allianzen. Libyen hat keine Zivilgesellschaft oder politische Parteien.“
Zudem hat in Libyen auch das Militär eine andere Rolle als in Ägypten und in Tunesien. In den beiden Ländern spielt die Armee eine durchaus eigenständige Rolle und sieht sich als stabilisierende Kraft - und schoss daher auch nicht auf die Protestierenden. In Libyen ist das Militär eng an den Al-Gaddafi-Clan gebunden. Fällt dieser weg, ist fraglich, ob sich die Soldaten den Entscheidungen der Armeeführung oder den Vorgaben ihrer Stämme verpflichtet fühlen. Desertierende und die Seite wechselnde Soldaten sprechen eher für Letzteres.
Schwache Exilopposition
Schließlich gibt es auch im ausländischen Exil kaum größere und einflussreichere Oppositionsgruppen geschweige denn bekannte Führungspersönlichkeiten. Am ehesten ist da noch die National Conference for the Libyan Opposition (NCLO) mit Sitz in London zu erwähnen. Diese wurde als Zusammenschluss mehrerer Gruppen 2005 gegründet. Federführend war die National Front for the Salvation of Libya, die sich bereits 1981 konstituiert hatte. Vorsitzender ist Ibrahim Abdelasis Sahad, ehemaliger Offizier und Diplomat unter Al-Gaddafi, ehe er mit dem Regime brach.
Bleibt die theoretische Möglichkeit, dass ein Sohn Al-Gaddafis seinen Vater beerbt, wie es eigentlich vom Clan beabsichtigt war. Saif al-Islam galt als potenzieller Modernisierer und Hoffnungsträger des Westens. Doch nach seiner TV-Rede kann weder angenommen werden, dass er der Politik seines Vaters ernsthaft den Rücken kehrt, noch, dass ihm die Bevölkerung einen solchen Schritt glauben und genug Vertrauen für die Zukunft schenken würde.
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