Wirklichkeits- vs. Möglichkeitssinn
Die USA sind von den Aufständen und Protesten, die nun in immer mehr arabischen Ländern ausbrechen, offenbar überrascht worden - und sie befinden sich in einer Zwickmühle: Einerseits ist die Unterstützung für die Ausbreitung der Demokratie eine alte Tradition der US-Außenpolitik, andererseits geraten ausgerechnet enge und wichtige verbündete Regime unter Druck.
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Werden nach dem Machthaber Ben Ali in Tunesien weitere Regime fallen, so könnte sich die Vision des besonders außenpolitisch höchst umstrittenen Obama-Vorgängers George W. Bush bewahrheiten: Dieser hatte den Irak-Krieg nicht zuletzt mit der „Dominostrategie“ gerechtfertigt, wonach die USA die Demokratie in den Nahen Osten bringen werden. Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein und einem politischen Neuanfang im Irak sollte diese Demokratie - wie beim Dominospiel - auch andere Regime, allen voran den Iran und Syrien, zu Fall bringen und sich die Demokratie in der Region quasi zwangsläufig ausbreiten.

Reuters
Bush und seine neokonservativen Souffleure im März 2003
Rumsfelds Irrtum
Allerdings unterscheidet sich die Realität in zwei wesentlichen Punkten von der Vision Bushs und seiner neokonservativen Vordenker, allen voran Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Vize Paul Wolfowitz: Erstens ist der Kampf für mehr Freiheit und Demokratie in Ägypten, Tunesien, Algerien und Jemen nicht Folge des US-Engagements im Nahen Osten und schon gar nicht des Irak-Kriegs. Vielmehr wurden die USA von den Entwicklungen - ähnlich wie Europa - auf dem falschen Fuß erwischt. Und zweitens finden die Proteste in den „falschen Ländern“ statt.
Denn Bush hatte zunächst eindeutig den Irak, Syrien und den Iran im Visier - bei den wichtigen Partnern Ägypten und Saudi-Arabien etwa unternahm Bush, von wenigen Floskeln abgesehen, nichts, um die Regime zu destabilisieren.
„Leuchtendes Beispiel“
Weniger als einen Monat vor Beginn der Irak-Invasion am 20.3.2003 sagte Bush: „Eine neue Regierung im Irak würde als dramatisches und leuchtendes Beispiel der Freiheit für andere Nationen der Region dienen.“
Bushs Möglichkeitssinn
Auch wenn derzeit in den Ländern selbst die jeweilige innenpolitische Situation - häufig Unterdrückung grundlegender Bürgerrechte, Korruption und teils desaströse soziale und wirtschaftliche Verhältnisse - allein im Vordergrund steht. International geht es zugleich auch darum, wie sich mögliche Regimewechsel auf das „Pulverfass“ Naher Osten auswirken. Wegen des israelisch-palästinensischen Konflikts, der Erdölversorgung und des islamistischen Terrors gehört der Nahe Osten zu jenen Regionen, in denen internationale Player besonders stark um Einfluss ringen.
Die „Bush-Doktrin“, die den islamistischen Terror mit der gewaltsamen Verbreitung von Demokratie bekämpfen wollte, ist jedenfalls gescheitert. Bis heute ist es nicht gelungen, den Irak oder gar Afghanistan neu zu ordnen und in den Ländern ein funktionierendes demokratisches Politsystem unter Einschluss aller wesentlichen Gruppen aufzubauen.
Obamas Wirklichkeitssinn
Obamas Regierung versucht nun eine Gratwanderung, die ihr beide Optionen offen lässt: Einerseits will sie es sich mit den unter Druck geratenen Regimen, insbesondere mit Ägyptens Staatschef Hosni Mubarak, nicht verscherzen, andererseits will Washington sich auf die Seite der Demonstranten stellen. Kairo habe jetzt „eine wichtige Gelegenheit, politische, wirtschaftliche und soziale Reformen umzusetzen, um den legitimen Bedürfnissen und Interessen des ägyptischen Volkes zu entsprechen“, so Außenministerin Hillary Clinton. Zugleich betonte sie, die USA unterstützten „die universellen Rechte des ägyptischen Volkes, was das Recht auf Meinungsfreiheit und Versammlung einschließt“.
Warnendes Beispiel
Die größte Angst in den USA, Europa und vor allem Israel ist aber, dass demokratische Reformen letztlich islamischen Bewegungen den Weg zur Macht ebnen könnten. Auch hierfür gibt es ein warnendes Beispiel aus den Bush-Jahren: Bush setzte im Sinne seiner „Dominostrategie“ im Jänner 2006 die ersten Wahlen nach zehn Jahre zum Palästinensischen Legislativrat durch. Das erwies sich freilich als schwerer Fehler, von dem nur einer überrascht wurde: nämlich er selbst.
Die radikalislamische Hamas fuhr einen Erdrutschsieg ein und bildete eine Alleinregierung. In der Folge sah sich Bush erst recht gezwungen, seine Demokratiemission abzubrechen. Er verhängte Sanktionen gegen die Hamas-Regierung, in der Folge kam es zum innerpalästinensischen Machtkampf, der mit der Machtübernahme der Hamas in Gaza endete. Bushs neokonservativer Idealismus hatte sich erneut als ebenso sture wie tragische Naivität erwiesen. Obamas Ansatz nimmt sich dagegen äußerst herkömmlich aus, zeugt aber dafür von deutlich mehr Wirklichkeitssinn.
Guido Tiefenthaler, ORF.at
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