Leo, Sofja und das „Kreuz“ der Ehe
Der Insel Verlag hat ORF.at exklusiv erlaubt, zwei der wichtigsten Briefe Leo Nikolajewitsch Tolstois und seiner Frau Sofja Tolstaja zu veröffentlichen. Tolstaja war verzweifelt, weil sie sein Tagebuch gelesen hatte. Immer wieder tauchte das Thema zwischen ihnen auf. Kurz vor seinem Tod, 15 Jahre, nachdem Tolstaja das Thema aufgebracht hatte, kommt Tolstoi noch einmal darauf zu sprechen.
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[Sofja Andrejewna Tolstaja an Lew Nilolajewitsch Tolstoj]
[12. Oktober 1895]
[Jasnaja Poljana]
Die ganzen letzten Tage liegt mir ein Stein auf dem Herzen, doch ich wagte nicht, mit Dir zu sprechen, weil ich fürchtete, Dich zu verdrießen. Gleichwohl kann ich mich nicht enthalten, Dir zum letzten Mal (ich werde zumindest bemüht sein, daß es das letzte Mal ist) zu sagen, was mich so furchtbar plagt. Warum bist Du in Deinen Tagebüchern, wenn Du von mir sprichst, so ausfallend gegen mich? Warum möchtest Du, daß alle kommenden Generationen und unsere Enkel auf meinen Namen verächtlich schauen, als o b e r f l ä c h l i c h e, b ö s a r t i g e und Dich unglücklich machende Ehefrau? Wenn es Deinen Ruhm auch mehren mag, daß Du als Opfer dastehst, so sehr zerstört es doch mich! Wenn Du mich einfach ausschimpftest oder sogar schlügest, wenn ich etwas Deiner Meinung nach Schlechtes tue, so wäre mir dies unvergleichlich leichter - denn dies vergeht, Deine Worte aber bleiben.
Nach Wanetschkas Tod (erinere Dich, wie er sagte: „Tu der Mama nicht weh!“) hast Du mir versprochen, alle bösen Worte über mich aus Deinen Tagebüchern zu streichen. Doch das hast Du nicht getan, im Gegenteil. Vielleicht fürchtest Du ja tatsächlich, daß Dein Nachruhm geschmälert werde, wenn Du mich nicht als Quälgeist und Dich selbst als Märtyrer darstellst, der sein Kreuz in Person seiner Ehegattin erträgt.
Verzeih mir, daß ich die Unredlichkeit besaß, Dein Tagebuch zu lesen. Es war ein Zufall, daß es dazu kam. Ich räumte in Deinem Zimmer auf, wischte Staub auf Deinem Schreibtisch und stieß dabei den Schlüssel vom Tisch. Die Verführung, in Deine Seele zu blicken, war zu groß, als daß ich ihr hätte widerstehen können. Und dabei stieß ich auf Worte wie: „S[onja] kam aus Moskau. Mischte sich in das Gespräch mit Boll, hob ihre eigene Person hervor. Nach W[anetschkas] Tod ist sie noch o b e r f l ä c h l i c h e r geworden. Ich muß mein K r e u z bis zum Ende t r a g e n. Hilf mir, oh Gott.“ Usw.
Wenn wir beide nicht mehr sein werden, wird jeder dieses Wort oberflächlich deuten, wie es ihm gefällt, und jeder wird aufgrund Deiner Worte Deine Ehefrau mit Schmutz bewerfen.
Und dies dafür, daß ich mein Leben lang nur für Dich und unsere Kinder gelebt und Dich mehr als jeden anderen auf der Welt geliebt habe (außer Wanetschka), daß ich mich keineswegs oberflächlich verhalten habe (auch wenn Du dies den nachfolgenden Gernerationen übermitteln magst) und daß ich an Körper und Geist als Deine Dir einzig ergebene Ehefrau sterben werde. Ich weiß, daß o b e r f l ä c h l i c h sich auf die Religion bezieht, doch wer wird dies schon verstehen?
[...]
Wenn es Dir nicht schwerfällt, so streiche doch alle diese gegen mich gerichteten Stellen aus Deinen Tagebüchern. Das wäre schließlich nur christlich. Mich zu lieben kann ich Dich nicht bitten, doch bitte ich Dich, meinen Namen zu schonen, so tue dies, wenn Du es willst. Noch einmal versuche ich, mich an Dein Herz zu wenden. Ich schreibe dies voller Schmerz und unter Tränen. Es auszusprechen, werde ich niemals imstande sein.
Verzeih mir, wenn Du kannst.
S. Tolstaja.
[Lew Nikolajewitsch Tolstoj an Sofja Andrejewna Tolstaja]
14. Juli 1910
[Jasnaja Poljana]
1) das Tagebuch, welches ich im Moment führe, übergebe ich niemandem.
2) Die alten Tagebücher werde ich von Tschertkow zurückfordern und in Verwahrung nehmen, bzw. in einem Banksafe aufbewahren.
3) Wenn Dich der Gedanke beunruhigt, daß jene Stellen in meinen Tagebüchern, die ich unter dem Eindruck des Augenblicks über unsere Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen schrieb, von künftigen, Dir nicht wohlgesinnten Biographen mißbraucht werden könnte - ganz abgesehen davon, daß solche Ausdrücke augenblicklicher Gefühle in meinen ebenso wie in Deinen Tagebüchern keine zutreffende Beschreibung unserer wirklichen Beziehung geben können -, wenn Du dies also fürchtest, so bin ich froh, diese Gelegenheit zu nutzen und im Tagebuch oder gleich in diesem Brief meine Beziehung zu Dir und mein Urteil Deines Lebens darzulegen.
Meine Beziehung zu Dir und mein Urteil Deines Lebens sind folgende: Wie ich Dich von Jugend an liebte, so liebte ich Dich immerwährend, ungeachtet der verschiedenen Ursachen für eine Abkühlung meiner Gefühle, und liebe Dich noch. Die Ursachen dieser Abkühlung waren (ohne vom Ende unserer ehelichen Beziehungen zu sprechen, denn damit wurde nur ein trügerischer Ausdruck der wahren Liebe beseitigt): Erstens, weil meine immer stärkere Abkehr von den Interessen des weltlichen Lebens und mein Ekel vor ihnen, während Du Dich davon weder losreißen wolltest noch konntest, da Deiner Seele jene Voraussetzungen fehlten, die mich zu meinen Überzeugungen gebracht haben, was nur sehr natürlich ist und ich Dir nicht vorwerfe. Dies ist das erste. Zweitens (verzeih mir, wenn das, was ich sage, Dir unangenehm sein sollte, doch was sich im Moment zwischen uns vollzieht, ist derart wichtig, daß man nicht fürchten darf, die ganze Wahrheit auszusprechen und anzuhören) wurdest Du in den letzen Jahren immer gereizter, despotischer und unnachgiebiger. Die Entwicklung dieser Charakterzüge mußte zu einer Abkühlung, nicht des eigentlichen Gefühls, aber seiner Äußerungen, führen. Dies ist das zweite. Drittens. Die wichtigste und verhängnisvollste Ursache - an der weder Du noch ich die Schuld tragen - ist unsere gänzlich entgegengesetzte Auffassung vom Sinn und Ziel des Lebens. Alles in unserer Auffassung vom Leben war entgegengesetzt: die Lebensweise, die Einstellung zu den Menschen und die Mittel zum Leben - das Eigentum, das ich als Sünde ansehe, Du aber als notwendige Voraussetzung zum Leben. Ich unterwarf mich, um mich nicht von Dir trennen zu müssen, in meiner Lebensweise den für mich schweren Lebensbedingungen, Du aber hast dies als Annäherung an Deine Ansichten gedeutet, und so wurde die Entfremdung zwischen uns größer und größer. [...] Doch ich habe ungeachtet aller Mißverständnisse, die es zwischen uns gab, nicht aufgehört, Dich zu lieben und zu respektieren.
Meine Beurteilung Deines Lebens mit mir ist folgende: Ich, ein sittlich verdorbener und sexuell zutiefst lasterhafter Mensch, habe, als ich schon nicht mehr der Jüngste war, Dich ein reines, gutes, kluges, achtzehnjähriges Mädchen geheiratet, und Du hast, ungeachtet meiner schmutzigen lasterhaften Vergangenheit, fast fünfzig Jahre mit mir zusammengelebt, mich geliebt und ein arbeitsames und schwieriges Leben gehabt, indem Du Kinder gebarst, sie stilltest, erzogst, für die Kinder und mich sorgtest und Dich nicht anderen Versuchungen hingabst, die jede gesunde, kräftige und schöne Frau in Deiner Lage so leicht hätte ergreifen können. Du lebtest so, daß ich Dir nichts vorzuwerfen habe. Daß Du mir auf meinem besonderen geistigen Weg nicht gefolgt bist, kann ich Dir nicht vorwerfen, und werfe ich Dir nicht vor, denn der geistige Weg eines jeden Menschen ist einzigartig vor Gott, und von einem anderen zu fordern, den selben Weg zu gehen, den man selbst geht, ist unmöglich. Wenn ich dies von Dir forderte, so war dies ein Fehler, und ich habe mich schuldig gemacht.
[...]
Dies also war 3) dazu, was Dich in Bezug auf die Tagebücher beunruhigen könnte, aber nicht beunruhigen muß.
4) Sollte Dir zum jetzigen Zeitpunkt meine Verbindung zu Tsch[ertkow] unerträglich sein, so bin ich bereit, ihn nicht mehr zu sehen, doch ich muß sagen, daß dies für ihn schlimmer wäre als für mich selbst. Wenn Du dies also möchtest, so bin ich bereit, dies zu tun.
Und wenn Du schließlich 5) meine Bedingungen eines guten, friedlichen Zusammenlebens nicht annimmst, ziehe ich mein Versprechen, Dich nicht zu verlassen, zurück. Dann gehe ich fort. [...]
Buchhinweise
Lew Tolstoj und Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen. Insel, 494 Seiten, 23,50 Euro.
Ich könnte weiterhin so leben, wenn ich Dein Leiden ruhig mit ansehen könnte, doch ich kann es nicht. [...] Denke ruhig nach, liebste Freundin, höre auf Dein Herz und Dein Gefühl, und Du wirst entscheiden, wie entschieden werden muß. Ich meinerseits muß sagen, daß ich alles so entschieden habe, daß ich es anders nicht kann, nicht kann. Hör auf, Liebste, nicht die anderen, sondern Dich selbst zu quälen, Dich selbst, denn Du leidest mehr als alle anderen. Dies ist alles.
Lew Tolstoi.
14. Juli, morgens.
1910.