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Tolstois „erstaunliche“ letzte Lebenstage

Für viele Russen brach mit dem Tod ihres Jahrhundertschriftstellers Leo Tolstoi vor 100 Jahren eine Welt zusammen. Als der Autor der international geschätzten Klassiker „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ 1910 im bescheidenen Häuschen eines Bahnwärters in Astapowo starb, verlor das Land einen seiner größten Denker, eine moralische Instanz.

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Der Todestag fiel nach westlichem Kalender auf den 20. November - in Russland aber, wo noch die vorrevolutionäre Zeitrechnung galt, auf den 7. November. Heute erinnern Russlands Medien voller Ehrfurcht an das Ende des schon zu Lebzeiten weltweit verehrten Genies und Sozialutopisten.

Ausgerechnet zum Sterben hatte der Greis das von ihm so geliebte malerische Jasnaja Poljana - rund 200 Kilometer südlich von Moskau - verlassen. Es war der Ort, wo er als Spross eines Adelsgeschlechts am 9. September 1828 zur Welt kam. Dort wurde er im Alter von neun Jahren Vollwaise. In Jasnaja Poljana, wo heute ein Museum und ein schmuckloser Grashügel als Grab an den Schriftsteller erinnern, ließ er seine Frau Sofja Andrejewna Tolstaja, mit der er ab 1862 für 48 Jahre verheiratet war und 13 Kinder hatte, zurück. „Ich tue das, was Alte in meinem Alter tun sollten: Sie gehen aus dem Leben, um ihre letzten Tage in Einsamkeit und Ruhe zu verbringen“, schrieb er zum Abschied an Sofja.

Tolstois inszenierter Tod

Tolstoi wusste seinen Tod zu inszenieren - wie er schon sein Leben mit Sofja als Spektakel medienwirksam zu vermarkten vermochte. Dass sich der bärtige Einsiedler in ein armseliges Bett zum Sterben zurückzog und in einem einfachen Holzsarg bestatten ließ, passte zu dem von ihm immer wieder gepredigten einfachen Leben, das er allerdings selbst so nie führte. „Ich kann nicht mehr leben unter diesen Bedingungen des Luxus“, hieß es auch in dem Brief.

„Es waren zehn Tage, die die Welt in Staunen versetzten“, sagt der russische Publizist Pawel Bassinski über die Sterbereise. In seinem neuen Buch „Leo Tolstoi: Flucht aus dem Paradies“ umreißt er diese für die Familie so schmerzhaften Momente, bis der exkommunizierte Christ morgens um 6.05 Uhr an einer Lungenentzündung starb.

Spannungsreiches Eheleben

In Filmbilder übersetzt, sehen das die Russen gerade in dem US-Kinostreifen „Ein russischer Sommer“, der in den österreichischen Kinos schon zu Jahresbeginn gelaufen war. In der Rolle des graubärtigen, bärbeißigen Tolstoi glänzt Christopher Plummer, der gemeinsam mit Helen Mirren als Sofja einen Einblick in das spannungsreiche Eheleben.

Filmszene aus "Ein russischer Sommer" mit Christopher Plummer und Helen Mirren

AP/Sony Pictures Classics/Stephan Rabold

Filmszene aus „Ein russischer Sommer“

Auch Wladimir Tolstoi, der das Andenken in Jasnaja Poljana wachhält, erinnert an das dramatische Leben seines Ururgroßvaters. Als Graf hatte Tolstoi zwar ein privilegiertes Leben geführt, kannte aber selbst die Schrecken des Krieges, den er im Kaukasus und auf der Krim erlebte - von 1851 bis 1856 als Offizier der Kaukasus-Armee.

Hauptwerk „Krieg und Frieden“

So gilt denn auch das Epos „Krieg und Frieden“ (1869) als sein Hauptwerk. Vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege beschreibt Tolstoi die Geschichte dreier Adelsfamilien. Er vertritt darin die These, dass Persönlichkeiten nicht die Geschichte beeinflussen können. In der Ehetragödie „Anna Karenina“ (1873-76) bekennt er sich hingegen zur Idee der Familie. Der kritische Zeitroman über die russische Oberschicht beschreibt den Ausbruch aus einer Ehe und seinen tragischen Ausgang.

Neben späteren Erzählungen wie „Der Tod des Iwan Iljitsch“ (1886) und „Die Kreutzersonate“ (1890) haben vor allem Tolstois Dramen die späten Schaffensjahre geprägt. Am Ende seines literarischen Schaffens steht der Roman „Auferstehung“ (1899). Darin ändert Fürst Nechljudow sein Leben im Geiste Jesu Christi und findet seinen inneren Frieden.

Soziales Gewissen

Dennoch: „Die Zerstörung des Menschen und die Zerstörung seiner Umwelt, in der er sich befindet - das ist es, was Tolstoi am meisten umgetrieben hat“, sagt der Ururenkel in einem Gespräch mit der deutschen Nachrichtenagentur dpa. Er sei nicht nur Kriegsgegner gewesen, sondern auch einer der Ersten mit einem sozialen Gewissen, dem es auch um die Menschenrechte ging, meint Wladimir Tolstoi.

So habe er auch das Ende des Zarenreichs vorausgesehen - freilich ohne die sozialistische Oktoberrevolution noch zu erleben, bei der sieben Jahre nach seinem Tod die Kommunisten die Macht übernahmen.

Ulf Mauder, dpa

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