An der Schnittstelle von Forschung und Kunst
Im Interview mit ORF.at erklären die Filmemacherin Jenny Gand und die Kärntner Historikerin Lisa Rettl die Herangehensweise zur Geschichte von Helga Emperger (geboren Peskoller). Wichtig war beiden die Erzählung von Zeitgeschichte aus einem intimen Raum heraus und über starke Nähe zu ihrer Hauptfigur.
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Wie sind Sie an den Stoff gekommen, wie auf die Geschichte von Maria und Helga Peskoller?
Lisa Rettl: Als ich noch an der Universität Klagenfurt tätig war, habe ich mich in meinen Forschungsarbeiten vor allem mit dem Kärntner Widerstand beschäftigt und ein Buch über Kärntnerinnen im Widerstand geplant. In groben Zügen war mir die Geschichte von Maria Peskoller bereits aus den Akten bekannt. Aus dem geplanten Buchprojekt ist damals letztendlich nichts geworden, aber bei den Vorgesprächen mit Zeitzeuginnen habe ich Helga Emperger kennengelernt. Das war 1999. Damals konnte Helga Emperger über ihre persönliche Geschichte aber noch nicht sprechen.
Wie war die Zusammenarbeit mit Helga Emperger? Der Film erzählt Geschichte in einem sehr intimen Rahmen. Sichtbar ist, wie das Trauma von damals in ihr immer noch nacharbeitet.
Jenny Gand: Die Zusammenarbeit mit Helga Emperger war sehr angenehm, sie ist ein wunderbarer Mensch und eine großartige Erzählerin. Für diese intime und offene Erzählweise war die Tatsache, dass wir zwei Frauen sind und auch in diesem kleinen Rahmen gedreht haben, von großer Bedeutung. Wir haben uns für sie sehr viel Zeit genommen und ihr durch die gewählte Form des erzählenden Interviews auch viel Raum gegeben, dort zu beginnen, wo es ihr ein Bedürfnis ist. Sehr schnell ist sie dabei auf den Tag der Verhaftung gekommen. Diese Erzählung ist aus ihr herausgebrochen. Bei der Schilderung des Abschieds von Mutter und Tochter versagte die Sprache. In dieser Szene war es mir mit der Wahl der Kameraeinstellung wichtig, sie auch sehr nah zu zeigen, ihr nah zu sein und dennoch ihre Intimität zu wahren. Im Verlauf des Films nähert sich die Kamera Helga Emperger langsam an: Je mehr wir von ihr erfahren, je mehr sie sich uns öffnet, desto näher zeigen wir sie, ohne sie bloßzustellen. Wir sind ihr sehr nah gewesen, und diese Nähe haben wir festhalten dürfen, und dafür bin ich ihr auch sehr dankbar.

Jenny Gand
Emperger zusammen mit Gand während der Dreharbeiten zu „Wilde Minze“
Ist Film das ideale Medium für Oral History?
Rettl: Ich denke schon, dass eine filmische Aufzeichnung von Zeitzeugeninterviews allgemein die ideale Form der Bewahrung und Archivierung dieser wichtigen Quellen ist, auch wenn man nicht immer gleich einen Film fürs Kino mit gestalterischen und cineastischen Elementen daraus macht. Generell spielt für die wissenschaftlich methodische Auswertung von erzählenden Interviews auch das gesamte Interviewsetting eine Rolle. Und da wir ja vor der Situation stehen, dass wir immer weniger Zeitzeugen und Zeitzeuginnen über ihre Erfahrungen aus der NS-Zeit befragen können, erscheint mir eine möglichst umfassende Aufnahme dieser wertvollen Quellendokumente für die Zukunft sehr wichtig.
Gand: Das filmische Porträt als Genre und die sehr persönliche Erzählhaltung, die wir gewählt haben, machen Identifikation möglich. Wir haben aber bewusst auf eine Kontextualisierung durch historisches Quellenmaterial verzichtet, um filmisch die Struktur und das Funktionieren von Erinnerung nachzuzeichnen: fragmentarisch, assoziativ und bildlich. So folgt „Wilde Minze“ der Erzählung Helga Empergers, ihren Erinnerungsorten in Form von stillen Tableaus im Zyklus der Zeit: der Wechsel der Jahreszeiten, eine Reise in die Vergangenheit, während die Gegenwart voranschreitet, ein fortwährendes Erinnern und Erzählen. Dadurch wollten wir uns auch formal von der klassischen TV-Dokumentation abgrenzen.
Lässt sich, gerade auch für eine Historikerin, ein zeitgeschichtliches Thema am Schicksal einer Familie leichter entfalten, als wenn man mit dem großen, umfassenden Ansatz herangeht?
Rettl: Ich denke, es kommt darauf an, wen man als Zielgruppe erreichen möchte und welche Aspekte man gerne herausarbeiten möchte. Ich persönlich arbeite allgemein sehr gern mit biografischen Ansätzen. Das hat einerseits mit einem Forschungsschwerpunkt zur österreichischen Erinnerungs- und Gedächtniskultur zu tun, wo mich neben dem kulturellen Gedächtnis auch das kommunikative Familiengedächtnis interessiert. Ich finde die Frage sehr spannend, wie sich das Reden und auch das Nicht-Reden über den Nationalsozialismus vollziehen, auf gesellschaftlicher wie auch auf privater Ebene. Zum anderen geben biografische Forschungsansätze die Möglichkeit, gesellschaftliche Prozesse und Mechanismen sehr detailliert anhand eines Einzelschicksals nachzuzeichnen.

Jenny Gand
Rettl: „Wie wird gesprochen über den Nationalsozialismus, auf gesellschaftlicher und auf privater Ebene?“
Wie war die Zusammenarbeit zwischen einer Historikerin und einer Filmemacherin? Wie viel plant man bei so einem Film? Wie viel entwickelt sich aus der Situation heraus?
Rettl: Ich habe diese Zusammenarbeit generell als sehr befruchtend empfunden, das Medium Film bot hier auch eine interessante Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst. Was die Entwicklung des Films betrifft, haben wir in diesem Projekt eigentlich alle ursprünglichen Konzepte über Bord geworfen. Nach dem ersten großen Dreh- und Interviewteil haben wir dann eigentlich sehr schnell entschieden, bei Helgas Geschichte, die vor allem um den Verlust der Mutter kreist, zu bleiben. Das Drehbuch haben wir dann Schritt für Schritt gemeinsam entwickelt.
Gand: Unsere Zusammenarbeit hat sehr gut funktioniert. Anfänglich gab es Diskussionen über die Gewichtung von historischen Fakten, da Lisas Recherche und unser Fokus neben Helgas Erzählung vor allem auch auf der gesamten Widerstandsgruppe lag. Was den Ablauf der Dreharbeiten anbelangt, so wollte ich auf jeden Fall unterschiedliche Jahreszeiten einfangen, und so haben wir in vier Etappen gedreht, auch um mit Helga einen Abstand zu haben. Jedes Mal haben wir dabei mit unserer Spurensuche eine neue Schicht freigelegt. Insofern ist der Film in einem laufenden Prozess entstanden.
Der Film wird nicht nur im Kino gezeigt, sondern soll auch an Schulen vorgeführt werden - gemeinsam mit Helga Emperger. Wie sind hier die Erwartungen?
Rettl: Derzeit bieten alle Kinos auch außerhalb der regulären Spieltermine Vorstellungen für den Besuch mit Schulklassen an. Wir hoffen, dass dieses Angebot gut angenommen wird. Bei bisherigen Einzelveranstaltungen haben wir die Erfahrung gemacht, dass junge Menschen sehr positiv auf den Film ansprechen, wahrscheinlich genau aus dem Grund, weil es weniger um Daten-Fakten-Geschichte geht, sondern um eine sehr persönliche Erzählung, die ohne Zorn und Vorwurf nachvollziehbar ist und Anknüpfungspunkte bietet. Umgekehrt haben wir bemerkt, dass auch die ältere Generation sehr positiv auf den Film anspricht, egal, auf welcher Seite man damals stand. Deshalb planen wir auch Vorführungen in Seniorenresidenzen.
Das Interview führte Gerald Heidegger, ORF.at