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„Wir sind alle krank“

Ein Künstlerleben lang ist Christoph Schlingensief dem Rat seines Jugendfreundes Helge Schneider gefolgt, „tief in deiner Seele nach deinen Ängsten zu suchen“. Das führte den Theater- und Filmregisseur, der 2010 im Alter von 49 Jahren seinem Krebsleiden erlegen ist, schließlich sogar, von Wolfgang Wagner gerufen, auf den legendären Grünen Hügel in Bayreuth.

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Dort gab das „Enfant terrible“ der deutschen Kulturszene 2004 sein spektakuläres Operndebüt mit „Parsifal“, Richard Wagners „Weltabschiedswerk“. Seiner Meinung nach hatte der Anfang 2008 bei ihm, einem Nichtraucher, entdeckte Lungenkrebs dort auch seinen Ursprung. Im Mai 2010 meinte Schlingensief in einem Interview, er wisse seit einigen Monaten, dass er neue Metastasen habe. Durch den Krebs sei „alles in den Boden gerissen worden“.

Viele Pläne

Dabei war er voller Pläne. Überraschend für die Kunstwelt war Schlingensief sogar die Gestaltung des deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale in Venedig 2011 übertragen worden. An der Pressekonferenz zur Vorstellung seiner Pläne hatte er Anfang Juli 2010 in Frankfurt am Main aber schon nicht mehr teilnehmen können. Auch eine Produktion für die Ruhrtriennale („S.M.A.S.H. - In Hilfe ersticken“) musste er absagen. In einem Brief an sein Team nannte er als Begründung „neue Befunde“ in seinem Krankheitsfall, „ein paar harte Neuigkeiten“.

Spinner oder Lichtgestalt

Christoph Schlingensief wurde, wie es ein Kritiker schrieb, von den einen als „nervtötender oder auch begnadeter Selbstdarsteller“ oder gar „Spinner“ und von den anderen als „Lichtgestalt unter all den Energiesparlampen“ in der Kulturszene angesehen. Seine Visionen und Kunstvorstellungen erinnerten manchmal an den Aktionskünstler Joseph Beuys (1921-1986) und dessen „erweiterten Kunstbegriff“. Er war auch eines der großen Vorbilder des Regisseurs.

Krebs auf Bühne verarbeitet

Seine Krebserkrankung verarbeitete er auch auf der Bühne. Produktionen wie „Mea culpa“ oder „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ am Wiener Burgtheater und bei der Ruhrtriennale fanden 2008 und 2009 große Beachtung. 2009 veröffentlichte er sein bewegendes „Tagebuch einer Krebserkrankung“, mit dem er auch auf Lesereise ging. Noch in diesem Mai inszenierte er das Opernprojekt „Via Intolleranza II“ nach Luigi Nono in Brüssel und an anderen Orten.

Schlingensiefs letzter Traum aber hieß Afrika mit einem eigenen „Festspielhaus“ in Burkina Faso. Im Februar 2010 legte er den Grundstein dazu, sprach zuletzt aber lieber von einem „Operndorf“, das kein „abgehobenes Bayreuth“ werden sollte. Von 2004 bis 2007 hatte er seine eigenen, ihn Kräfte raubenden und Nerven zehrenden Erfahrungen mit dem „Wallfahrtsort“ aller Wagnerianer gemacht.

„Schritt zur Ich-Erkenntnis“

Indirekt gab er diesem „Abenteuer“ später auch eine „Mitschuld“ an seinem Krebs, der in Bayreuth zu wachsen begonnen habe. „Trotz allem bin ich froh, dass ich den ‚Parsifal‘ gemacht habe, es war letztendlich ein großer Schritt zur Kunst und wie Beuys sagen würde, zur Ich-Erkenntnis.“

Im Sommer 2009 heiratete der bereits krebskranke Künstler im brandenburgischen Hoppenrade seine langjährige künstlerische Mitarbeiterin Aino Laberenz. Er starb, wie sie sagte, „im Kreis seiner Familie“ in Berlin.

Wilfried Mommert, dpa

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