Filmchronik eines Justizskandals
Die Russen hatten Murer, der als österreichischer Funktionär der NSDAP im Ghetto von Vilnius zwischen 1941 und 1943 für „jüdische Angelegenheiten“ zuständig war, nach Kriegsende zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 80.000 Juden lebten in der litauischen Hauptstadt vor Murers Ankunft im „Jerusalem des Nordens“, zwei Jahre später waren nur noch 600 übrig. So steht es in den Nürnberger Prozessakten.
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1955 schickten die Russen Murer nach nur sechs Jahren im Zuge des Staatsvertrags nach Österreich zurück, mit der Auflage, dass ihm dort ein neuer Prozess gemacht werde. Dazu kam es erst 1963, und das auch nur nach Interventionen von Simon Wiesenthal (Karl Markovics).
Keine Spur von Gerechtigkeit
An dieser Stelle steigt „Murer - Anatomie eines Prozesses“ ein. Sehr bald zeigt sich, dass der Prozess um den Angeklagten Murer (wenig Text, große Ausstrahlung in der Titelrolle: Karl Fischer) zwar formaljuristisch den Ansprüchen genügt, doch mit der Suche nach Gerechtigkeit nichts zu tun hat: Der Staatsanwalt (überzeugend gespielt von Roland Jaeger) agiert schwach und angreifbar.
Filmhinweis
„Murer - Anatomie eines Prozesses“ eröffnete am 13. März um 19.30 Uhr die Diagonale in der Helmut List-Halle (nur mit Einladung). Außerdem läuft er noch am 17. März um 13.30 Uhr im KIZ Royal. Offizieller Kinostart in Österreich ist der 16. März.
Der Verteidiger (Alexander E. Fennon) hat leichtes Spiel, die Gunst des Publikums zu gewinnen, indem er immer wieder auf den in seiner steirischen Heimat allseits geschätzten Angeklagten verweist und die Zeugenaussagen der aus Israel und den USA angereisten Holocaust-Überlebenden unerbittlich zerpflückt.
Welche Farbe hatte die Uniform?
Regisseur Frosch, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat sich alle Mühe gegeben, auch die Nebenrollen mit starken Schauspielern zu besetzen: Selbst die weniger prominent im Film auftauchenden Zeugen wirken glaubhaft und intensiv in ihrem Sprachduktus. Nichts klingt papieren und aufgesagt in diesem durch das ORF-Film/Fernseh-Abkommen geförderten Film. Die Zeugen berichten von der großen Mordlust und dem unerträglichem Sadismus des Angeklagten. Dieser wiederum spricht von Verwechslung, der Verteidiger moniert immer wieder, dass die Zeugen sich noch nicht einmal an die Farbe der Uniform Murers erinnern – wie solle man da ihren Geschichten glauben?
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„Österreich hat keine Seele und keinen Charakter. Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern“, schreibt Frosch über die Arbeit an seinem Film. Und weiter: „Mich interessierte weniger, zum wiederholten Male die Verbrechen des NS-Regimes nachzuerzählen, sondern genau hinzusehen und zu verstehen, wie sich die vom Wesen her grundsätzlich verschiedenen Gruppen (Täter, Opfer und Zusehende) in der Republik Österreich darstell(t)en. Das Spannende ist, dass man hier sehen kann, wie das österreichische Nationalnarrativ funktioniert(e). Es basiert keineswegs auf Verdrängung. Es wurde bewusst gelogen, verschleiert, verbogen und gesteuert" - mehr dazu in „Dem Prozess den Prozess machen“.
Ohne erhobenen Zeigefinger
„Murer – Anatomie eines Prozesses“ gebührt Lob dafür, genau das ohne erhobenen Zeigefinger darzustellen. An die Gesichter und Eigenheiten der acht so unterschiedlichen Geschworenen, die erfreulich gegen den Strich besetzt sind, erinnert man sich noch lange nach dem Film. Sie alle nehmen ihren Job durchaus ernst, und doch ist der gesamte zehntägige Prozess nichts anderes als eine Farce, deren gewünschtes Ende absehbar ist. Denn im Hintergrund ziehen SPÖ und ÖVP die Fäden.
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Den Bauernbund-Präsidenten stört es, dass immer wieder auf die ÖVP-Mitgliedschaft Murers verwiesen wird. Und der rote Justizminister denkt nur an die nächsten Wahlen und hat daher kein Interesse an einer Haftstrafe für den Angeklagten.
Ein Ehrenmann im abgewetzten Janker
Alle haben in diesem Film - so scheint es - Leichen im Keller oder wissen zumindest, wo diese beim politischen Gegner zu finden sind, um sie für die eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Unbewusst einig ist man sich nur in der Ablehnung und Verächtlichmachung der wütenden, ratlosen, desillusionierten oder traumatisierten Zeugen mit ihren Angriffen auf diesen Ehrenmann im abgetragenen Janker, der so nach ehrlicher Arbeit und Heimat ausschaut.
„Murer – Anatomie eines Prozesses“ ist ein ebenso erschütternder wie spannender Gerichtsfilm, der zugleich die lähmende Atmosphäre aus Antisemitismus und einer gegängelten Justiz im Österreich der 1960er Jahre zeigt. Ein starkes und bitteres Stück Kino zur Diagonale-Eröffnung.
Alexander Musik, für ORF.at