„Dem Prozess den Prozess machen“

Regisseur Christian Frosch (52) hat mit „Murer - Anatomie eines Prozesses“ einen der größten Justizskandale der Zweiten Republik verfilmt. Im Gespräch mit ORF.at erzählt Frosch von den Besonderheiten des österreichischen Justizsystems und warum ihm der Frankfurter Auschwitz-Prozess geholfen hat, den richtigen Ton bei der Inszenierung seines Gerichtsdramas zu finden.

Etwa eineinhalb Jahre hat Frosch gebraucht, um das Budget für seinen Film aufzustellen. Ursprünglich wollte er sich in dieser österreichisch-luxemburgischen Koproduktion auf die Darstellung des reinen, 1963 stattgefundenen Gerichtsprozesses beschränken, kam aber schnell wieder davon ab.

Christian Frosch

Jost Hering Filme

Regisseur Christian Frosch

Denn um die „Anatomie des Prozesses“ als Zuschauer wirklich nachvollziehen zu können, so Frosch im Gespräch, müsse man die Besonderheiten des österreichischen Justizsystems verstehen. Um diese filmisch unauffällig zu transportieren, hat er auch private Szenen eingebaut - etwa aus dem familiären Umfeld des Staatsanwalts oder Absprachen unter den Geschworenen außerhalb des Gerichtssaals.

ORF.at: „Murer - Anatomie eines Prozesses“ heißt Ihr Film. Anatomie, das bedeutet Zergliedern, Analysieren, meist von etwas Krankhaftem. Dachten Sie beim Titel an das kranke österreichische Justizsystem der Zeit?

Christian Frosch: Das hätte ich nicht besser formulieren können. Ja, das war natürlich die Überlegung dahinter. Es gab so einen Satz, der für mich immer wichtig war: dem Prozess den Prozess machen. Dann hat sich die Idee der Anatomie - das heißt der Verzicht auf eine klare Hauptfigur und die Untersuchung der einzelnen Bestandteile - in den Vordergrund gedrängt.

ORF.at: „Der Krieg dauert an“, sagt die Frau des Angeklagten im Gerichtssaal 1963. Diese lähmende Atmosphäre lastet auf dem gesamten Film: Jeder kann jeden jederzeit belasten und erpressen.

Frosch: Jeder spielt mit den Karten, die er hat. Der Satz spricht auf die in gewissen rechten Kreisen immer noch geltende Legende an, dass das Weltjudentum den Krieg begonnen hat.

Szene aus "Murer"

Prisma Film

Murers Frau (gespielt von Ursula Ofner-Scribano) war eine der Zeuginnen vor Gericht

ORF.at: Ohne Simon Wiesenthals Intervention hätte es den Prozess gegen Franz Murer gar nicht gegeben?

Frosch: Das kann man so behaupten. Der Murer hat unter vollem Namen dort gelebt und hat eine Ehrung der Republik Österreich bekommen, war ein angesehener Politiker. Niemand hat sich an seiner Vergangenheit mehr gestört, und das Pech für Murer war bloß, dass er noch mal genannt wurde im Eichmann-Prozess und plötzlich ein internationaler Fokus nochmal auf diesen Namen kam. Eigentlich hat der Wiesenthal gedacht, dass der Murer längst erschossen war oder in irgendeinem russischen Gefängnis vergammelt, er war völlig überrascht, dass er als angesehener Bürger in Österreich lebt.

ORF.at: Der Film „Die zwölf Geschworenen“ wird in „Murer“ ausdrücklich thematisiert. Ein Vorbild für Ihren Film?

Frosch: Nein, obwohl ich den Film sehr mag, ist das nur ein Trick, um dem österreichischen Zuschauer zu erklären, wie das österreichische Justizsystem funktioniert. Wir sind alle von Hollywood geprägt und denken, das läuft wie in Hollywood. Dass wir eine höchst komplexe Mischform haben mit acht Geschworenen, das muss man einfach erklären. Da habe ich diesen lockeren Dialog als Vorwand genommen, damit es die Infos gibt.

ORF.at: Im Gerichtssaal ist es fast immer mucksmäuschenstill. Auch nach den emotionalsten Zeugenaussagen oder dem Freispruch Murers: keine Wutausbrüche der jüdischen Zeugen oder im Publikum, keine Aggressionen. Ein Stilmittel?

Frosch: Im Original wurde es so beschrieben, dass das Plädoyer des Verteidigers Murers mit frenetischem Applaus quittiert wurde. Man kann erst in den Zeitungsartikeln sehen, wie die Stimmung war. Und die muss so dermaßen aggressiv gegen die Zeugen gewesen sein, mit Zwischenrufen, Verhöhnungen, Gelächter.

Demonstration gegen Murers Freispruch Graz 1963

ORF

Demonstration gegen Murers Freispruch in Graz 1963

Ich habe das im Film tatsächlich runtergeschraubt, weil es wie blöde Propaganda gewesen wäre. Wenn man es nach den Originalmeldungen, was da wirklich los war, inszeniert hätte, wäre es unglaubwürdig gewesen. In dem Moment, wo ich das Gerichtspublikum in der einen oder anderen Art definiere, gebe ich ja sofort eine Wertung ab. Mir war aber wichtig, dass der Zuschauer des Films wie ein Zuschauer im Gerichtssaal sitzt. Man wird nicht hingeführt, so musst du es sehen, das Puzzle muss man selber zusammensetzen. Die Neutralität des Publikums, die wohl nicht ganz der Wirklichkeit entspricht, war mir wichtig.

ORF.at: Sie haben die Gerichtsakten durchforstet. Darin steht nichts von Zwischenrufen oder anderen Unmutsäußerungen?

Frosch: Das ist auch wieder nicht wie in Hollywood, wo jemand sitzt, der mitstenografiert Wort für Wort. Im österreichischen Gericht gibt es weder Tonbandaufzeichnungen noch wortwörtliche Protokolle, sondern Zusammenfassungen, wobei diese Zusammenfassungen ja auch schon wieder Wertungen sind. Da sitzt der Richter und sagt: So und so ist das zusammenzufassen. Ich wusste selbst nicht, wie minimalistisch so ein Gerichtsprotokoll ist.

ORF.at: Die Dialoge haben Sie also selbst erarbeitet?

Frosch: Genau, wobei hilfreich war, dass der Auschwitz-Prozess ein Jahr später in Frankfurt war, da gibt es Tonbandaufnahmen, dadurch konnte ich viel von der Atmosphäre, dem Wortlaut der Zeugenaussagen für mich adaptieren. Am Anfang war ich da ziemlich hilflos: Jüdische Zeugenaussagen, da steht dann etwa: Meine Schwester wurde erschossen. Punkt. Wie spricht man so was an?

ORF.at: Im Hintergrund sieht man zwei Politiker die Fäden ziehen: Der schwarze Bauernbund-Präsident und der rote Justizminister. Beide wollen den Freispruch Murers, aus unterschiedlichen Gründen. Im Abspann heißt es dann: Minister Broda gelang die Reform des Familien- und Strafrechts. Also ist sein Kalkül aufgegangen ...

Frosch: Christian Broda ist die spannendste Figur, weil das Dilemma am größten ist. Weil er wirklich Antifaschist war, verurteilt wurde, fast umgebracht worden wäre. Trotzdem spielt er in diesem Prozess die Rolle desjenigen, der mit dafür sorgt, dass Murer nicht verurteilt wird. Ich hab mich gefragt: Wie kommt jemand dazu? Für mich ist die plausibelste Erklärung, da gibt’s diese Ideologie: Die Zukunft ist wichtig! Für die Zukunft müssen wir Opfer bringen. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn der Murer verurteilt worden wäre - aber es war politisch nicht opportun.

ORF.at: Franz Murers Sohn Gerulf war unter anderem FPÖ-Funktionär und Staatssekretär im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. Haben Sie ihn im Zuge Ihrer Recherche einmal aufgesucht?

Frosch: Ich habe ihn vor Jahren einmal angeschrieben und habe keine Antwort erhalten. Ich bin aber nicht in Gaishorn (dem Wohnort Murers in der Steiermark, Anm.) aufgetaucht, um ihn zu „stellen“, das ist ja kein investigativer Journalismus, was ich hier betreibe. Ich hatte immer gehofft, dass irgendein schwarzes Schaf in der Familie Murer - was es ja immer gibt - Kontakt aufnimmt.

Mich hätte natürlich interessiert, wie die Geschichte innerhalb der Familie erzählt wird. Ich habe ein wenig Informationen von Leuten, die den Franz Murer noch als Lokalpolitiker erlebt haben bei Sitzungen. Zum Beispiel, dass er nur Hochdeutsch gesprochen hat, ein sehr reines Hochdeutsch, was in der Region extrem unüblich ist. Deswegen spricht er im Film auch ein klares Hochdeutsch und keinen Dialekt. Er war kein leutseliger Schulterklopfer, er hat dieses sehr dominante Auftreten gehabt.

Und er hat bis zum Schluss seine Taten geleugnet. Es gibt da einen Entwurf, eine autobiografische Skizze im Wiesenthal-Archiv, die aber nur zwölf Seiten lang ist, wo er noch einmal seine Unschuld beteuert.

Das Gespräch führte Alexander Musik, für ORF.at