Filmszene aus "Maikäfer flieg"

Luna Film

„Maikäfer flieg“: Nöstlinger meets Pippi Langstrumpf

Zur Eröffnung der diesjährigen Diagonale ist „Maikäfer flieg“ der richtige Film zur richtigen Zeit. Mirjam Unger hat die Kindheitserinnerungen von Christine Nöstlinger verfilmt und das zerbombte Wien der letzten Kriegstage 1945 in die Gegenwart geholt. Berührend ob seiner Aktualität und unterhaltsam zugleich wird mit diesem Antikriegsfilm österreichische Filmgeschichte geschrieben.

Auf sie können sich fast alle einigen. Auch wenn sie in Interviews mitunter einen recht herben Charme versprüht und mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg hält, zählt Christine Nöstlinger nach wie vor zu den beliebtesten und wichtigsten österreichischen Kinderbuchautorinnen. Jetzt hat die Wiener Regisseurin Mirjam Unger Nöstlingers autobiografische Kindheitsgeschichte „Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich“ aus dem Jahr 1973 für die Leinwand adaptiert und sowohl die inhaltliche Struktur als auch die Perspektive der neunjährigen Christl beibehalten.

Das Kriegsende als Ausnahmezustand

Und ja, so hätte man sich die Nöstlinger als Kind vorgestellt: eine Art Wiener Pippi Langstrumpf, neugierig, unerschrocken, altklug, mutig und offen für alles, was nicht „normal“ ist. Immer auf der Suche nach der größtmöglichen Freiheit, scheint das Mädchen den Ausnahmezustand am Ende des Krieges neben all dem Leid und Chaos auch als Chance zu begreifen.

Filmszene aus "Maikäfer flieg"

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Die neunjährige Christine (Zita Gaier) hat ihren eigenen Blick auf die Welt

Zitat Christine Nöstlinger

„Die Wochen aus ‚Maikäfer flieg‘, die Wochen im Sommer 1945, als alles in Schutt und Asche lag, waren die aufregendsten und spannendsten und vielleicht sogar schönsten Wochen meiner Kindheit.“

Während die Erwachsenen mit dem beginnenden Wiederaufbau beschäftigt sind, herrscht für die Kinder eine Art Anarchie, denn wenn die Welt in Trümmern liegt, gibt es Wichtigeres als ein fluchendes Mädchen. Man darf den Teller ablecken, wenn es schon einmal was zu essen gibt, muss nicht zur Schule gehen, und sogar die Oma sagt „scheiße“ und „Oaschloch“ (wenn auch in Verbindung mit der „Nazibagage“). „Ich werd’ alles dafür tun, dass die Zeiten nie mehr normal werden“, sagt Christl einmal, und tatsächlich, die Zeiten sind alles andere als normal.

Die Russen kommen

Im April 1945 wird das Haus der Nöstlingers in Hernals von Bomben zerstört, und die Mutter flieht mit den beiden Töchtern in eine leerstehende Villa am Stadtrand. Das Essen ist knapp, und während das Ende der Nazi-Herrschaft naht, steht schon die nächste Bedrohung buchstäblich vor der Tür: Die Russen kommen und besetzen das Haus, in dem mittlerweile auch der kriegsversehrte Vater und die ehemalige Hausherrin Frau von Braun mitsamt Sohn Unterschlupf gefunden haben.

Szene aus "Maikäfer flieg"

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Unfreiwillig unter einem Dach: Christines Schwester (Paula Brunner), die Mutter (Ursula Strauss), der kleine Gerald (Lino Gaier) und Nazi-Witwe Frau von Braun (Bettina Mittendorfer)

„Wenn die Russen da sind, schneiden sie den Frauen den Busen ab und erschießen die Kinder“, sagt die große Schwester im Vorfeld. Doch in Wirklichkeit entpuppen sich die Besatzer als eine Truppe wodkatrinkender, vom Krieg traumatisierter Rabauken, die größtenteils das Herz am rechten Fleck haben. Das erkennt vor allem Christine, die sich mit dem Außenseiter Cohn - dem jüdischen Koch der Soldaten - anfreundet. Mit kindlicher Naivität und ohne jegliche Vorurteile stürzt sich Christl in diese Freundschaft und setzt damit ein Zeichen für Zivilcourage und Menschlichkeit, das 2016 aktueller nicht sein könnte.

Inszeniert wurde der vom ORF geförderte Film dynamisch, mit vielen Großaufnahmen, temporeich und bunt, um ein Publikum in möglichen Schulvorstellungen dazu zu bringen, das Handy aus der Hand zu legen. Tragödie und Komödie auf engstem Raum, leichtfüßig und doch weltbewegend, ein Antikriegsfilm im besten Sinn.

Reminiszenz an die, die bleiben mussten

Unger zeigt die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs als Reminiszenz an jene Familien, die in Wien bleiben mussten, einfach weil sie dort lebten, die mit dem Nazi-Regime nicht einverstanden waren und einfach nur versuchten, zu überleben. Und an all die Frauen, die ein Land aus der Asche wieder aufbauen mussten. Ursula Strauss spielt die kompromisslose, vom Leben im Krieg gezeichnete Trümmerfrau mit einer sensiblen Stärke, die unter die Haut geht. Ihre Blicke, Worte und Taten lassen sich am besten mit einem Begriff zusammenfassen: Rückgrat. Diese Frau ist unnachgiebig mit ihren Kindern und kämpft zugleich wie eine Löwin für sie. Sie „richtet den Männern die Wadln viere“ und man erahnt, woher die kleine Christl ihren Mut und ihren Sinn für Gerechtigkeit hat.

Gerald Votava in "Maikäfer flieg"

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Gerald Votava als Vater, der aus der Wehrmacht desertierte

Überzeugend auch Gerald Votava als Nöstlingers geliebter Vater, der - kein Mann großer Worte - den Überblick im Chaos bewahrt und vor allem auch seinen Humor nicht verliert. Nur einmal wird der von Granatsplittern Getroffene laut und wirft den Frauen im Haus an den Kopf: „Ihr wisst’s ja gar nicht, wie das war.“

Der Schatz in den Trümmern

Die neunjährige Zita Gaier, die für „Maikäfer flieg“ zum ersten Mal vor der Kamera stand, wurde zum Glücksfall für den Film. Mit unglaublicher Leichtigkeit spielt sie das unerschrockene Mädchen, das sich von seinen Eltern und dem Rest der Welt nichts sagen lässt. Schon wie sie zu Beginn des Films einen Karton mit unversehrten gläsernen Christbaumkugeln in den Trümmern findet und diese wie einen Schatz aufbewahrt, zeigt das Mädchen als Freigeist, der sich bei Bedarf seine eigene Welt schafft. Die Kugeln werden ab sofort als Kaleidoskop verwendet, wenn der Blick auf die Wirklichkeit anders wieder einmal kaum zu ertragen ist.

Besonders intensiv sind die Szenen im Gartenhaus, wo Gaier auf Augenhöhe mit dem russischen Schauspielstar Konstantin Chabensky („World War Z“) spielt. Er gibt den jüdischen Sonderling, der ausgestoßen aus der Gemeinschaft die Drecksarbeit verrichten muss - der Antisemitismus war auch in Russland fest verankert.

Dreharbeiten von Realität eingeholt

Im Interview mit ORF.at sprach Regisseurin Unger darüber, wie sie während der Dreharbeiten zu ihrem bisher größten Film von der Realität eingeholt wurde. Schon während der Recherchen über das zerbombte Wien von damals seien die Parallelen zu aktuellen Bildern von Aleppo, Homs oder Damaskus erschreckend gewesen. „Wenn ich dann noch Bilder von kleinen Kindern in Kriegsgebieten sehe, denke ich mir, das ist auch eine kleine Christl, die da rumläuft und das alles mit ihren eigenen Augen bewertet.“

Mirjam Unger im Interview

ORF.at/Sonia Neufeld

Regisseurin Unger freut sich, dass ihr Film die Diagonale eröffnet

So habe sich die Arbeit an dem Film immer mehr zu einem Herzensprojekt entwickelt, und nicht zuletzt wegen des Bezugs zur Tagespolitik sieht Unger „Maikäfer flieg“ als Film für alle Generationen. „Wie diese Gesellschaftsspiele von neun bis 99 für die ganze Familie, weil ich denke, es ist wichtig, dass die Generationen miteinander über das Thema diskutieren.“

Diagonale-Talk zum Frauenthema

„I’ll Have What He’s Having. Frauenkarrieren in der Männerdomäne Film“ (9. März, 15.00 Uhr, HDA)

Sandra Nigischer spricht mit den Filmschaffenden Nina Kusturica, Paul Poet und Gabriele Kranzelbinder über ein anscheinend statisches Ungleichgewicht, Lösungsmöglichkeiten, Netzwerkbildung, Role Models & Mentorinnen, Frauensolidarität und Alternativen zur klassischen Filmförderung.

Frauen in Schlüsselpositionen

Diskutiert wird im Moment auch viel über das Thema Filmemachen als Männerdomäne, wogegen Unger und ihr Team ein starkes Statement setzten, indem alle „Heads of Department“ mit Frauen besetzt wurden. Neben Unger waren Kodrehbuchautorin Sandra Bohle, Kamerafrau Eva Testor, Musikerin Eva Jantschitsch alias Gustav, Ausstatterin Katharina Wöppermann, Kostümbildnerin Caterina Czepek und Cutterin Niki Mossböck im Einsatz. Produzentin war Gabriele Kranzelbinder, der die Diagonale in der neuen Programmschiene „Zur Person" ein Special widmet. Das Budget habe mit über drei Millionen Euro eine „für Frauen bis dahin gläserne Decke durchbrochen“, sagt Unger. Und weiter über die neuen Diagonale-Chefs Peter Schernhuber und Sebastian Höglinger: „Ich habe den Eindruck, sie nehmen die Genderfrage sehr ernst und als ganz wichtigen Auftrag.“

Filmhinweis

„Maikäfer flieg“ ist der Eröffnungsfilm der Diagonale und wird noch am 12. März um 11.00 Uhr im KIZ Royal gezeigt.

Österreichweiter Kinostart ist am 11. März.

Die gewisse Euphorie der Diagonale

Überhaupt sei es das Besondere an der Diagonale, dass es sich um kein abgebrühtes Festival handle, sondern immer eine gewisse Euphorie dahinterstecke, die anderen vielleicht schon ein bisschen abhanden gekommen sei. „Ich finde es super, dass wir die Uraufführung in Österreich bei der Diagonale haben. Es geht ja um die Nöstlinger und ein Stück österreichische Identität. Wir beginnen hier, machen dann gleich den Kinostart und schauen, was noch alles passiert. Warum sollen das nur die Coen-Brüder können - Sundance, Berlinale und dann gleich Kinostart - das können wir im Kleinen auch“, so Unger lachend.

Sonia Neufeld, ORF.at

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