Multikulti? Nachfragen, bis es wehtut

Der US-amerikanische Regisseur Abel Ferrara hat eine kleine Doku über einen Platz in Rom gedreht, an dem es vor Menschen aus unterschiedlichen Ländern nur so wimmelt, ähnlich wie auf dem Wiener Reumannplatz. Ein Film, wie geschaffen für Österreich: Ohne Mission bedient er weder die Fantasie vom multikulturellen Schlaraffenland noch die in Österreich salonfähig gewordene krankhafte Angst vor dem Fremden.

Oft ist gerade dort der Zuspruch zu rechtsextremen Parteien am größten, wo besonders wenige Menschen mit Migrationshintergrund leben, vor allem auf dem Land, das hat sich auch in Österreich wiederholt gezeigt. Andererseits wird in den Städten - Beispiel Wien - gerade in jenen Bezirken das Banner der Multikulturalität besonders hoch gehalten, in denen gar nicht so viele Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern leben.

Dass jeder Ausländer ein Sozialschmarotzer und potenzieller Terrorist ist, kann nur glauben, wer keinen kennt. Dass die größte Herausforderung multikulturellen Zusammenlebens das Organisieren gemeinsamer Feste und Austauschen von Kochrezepten ist, kann nur glauben, wer seine Kinder in selbst organisierten, privaten, hippen Kindergruppen vor Multikulturalität schützt. Das Problem: Weder die einen noch die anderen wissen, wovon sie sprechen.

Filmstill aus "Piazza Vittorio"

Viennale

Die Geschichten, die man von den Migranten hört, ähneln einander

Abel Ferrara

Geboren 1952 in der Bronx, New York, drehte er seine ersten 8mm-Filme bereits an der High School. 1979 realisierte er seinen Debütfilm „Driller Killer“. Er etablierte sich in Folge als einer der radikalsten und am meisten beachteten Off-Hollywood-Regisseure. Seine Filme werden regelmäßig bei der Viennale gezeigt. Ferrara gestaltete zudem den Trailer dieser Viennale, gewidmet Hans Hurch. (Kurzbio: Viennale)

Herumhängen im Park

Wäre das anders - Ferraras Doku wäre eigentlich nicht der Rede wert. Viel Mühe kann sie ihn nicht gekostet haben. Mit einem kleinen Team spaziert er - weitgehend ohne ästhetischen Anspruch - ein paar Mal über die Piazza Vittorio in Rom. In einer großen Markthalle werden Waren aus aller Herren und Damen Länder feilgeboten, im Park hängen den ganzen Tag lang Afrikaner und italienische Pensionisten herum. Gesäumt wird der Platz von chinesischen Restaurants und Ramschläden sowie von indisch-pakistanischen Delis.

Die Pensionisten sind grantig, die Afrikaner frustriert, langweilig ist allen hier. Wer kann beiden Seiten den Grant verdenken? Eine der älteren Damen sagt, sie kann sich von ihrer Mindestpension nicht einmal eine Wohnung leisten. Das ganze Leben gerackert und brav ins System eingezahlt - und dann im Stich gelassen. Viele machen dafür die Migranten verantwortlich anstatt einer verfehlten Prioritätensetzung durch Volksvertreter. Es tritt sich eben leichter nach unten als nach oben.

Filmstill aus "Piazza Vittorio"

Viennale

Ohne Perspektive, da wie dort

Und die Afrikaner erzählen alle ähnliche Geschichten. Zu Hause war die „Regierung schlecht“, die „Behörden korrupt“, es gab keine Möglichkeit, durch ehrliche Arbeit über die Runden zu kommen. Dann Emigration in Nachbarländer, wo es auch nicht besser war, weiter über den Maghreb, wo die Lage erst recht aussichtslos schien, per Boot nach Italien. Lampedusa? „Yes, of course, Lampedusa.“ Und dann schließlich in Rom als Flüchtlinge gelandet - ohne Job, ohne Perspektive, mit gerade einmal genug, um nicht zu verhungern.

Filmhinweis

Abel Ferraras „Piazza Vittorio“ ist bei der Viennale bereits gelaufen und hat bisher keinen regulären Filmstart in Österreich.

Ferraras Verdienst ist es, dass er sie reden lässt und ihnen Fragen stellt, die sich sonst niemand zu stellen traut. Er gibt einen Einblick in Lebenswelten, die man nur vom Vorbeigehen und scheu Hinblicken kennt. Ein paar der Schwarzen sind unsympathisch und gehen den Regisseur um Geld an, andere sind witzig und können großartig Geschichten erzählen.

Licht und Schatten hier wie dort. Manche der Pensionisten sind durch und durch dauerfrustrierte, negative Menschen. Andere haben sich trotz ihrer schwierigen Situation eine gesunde „Jetzt erst recht“-Haltung zu eigen gemacht, ärgern sich über einzelne Migranten und scherzen mit anderen.

Und jetzt?

Die Chinesen, Pakistani und Inder mit ihren Mini-Businesses strotzen vor Tatendrang und leben gerne in Italien. Dazu spricht Ferrara noch mit ein paar wirren Theoretikern, die irgendeine seltsame Art von Organisation gegründet haben, um im Migrantenviertel italienische Kultur am Leben zu erhalten. Ihr Geschwurbel hört sich an, als wären sie die marxistische Version der „Identitären“: Geknechtete aller Völker, vereinigt euch - aber bitte nur im jeweils eigenen Land.

Was soll man jetzt damit anfangen? Welche Schlüsse daraus ziehen? Was ist die Conclusio von Ferraras Film? Genau das - dass es keine Conclusio, keine einfachen Antworten gibt. Die Welt ist ein heilloses Durcheinander und wird es bleiben, so gerne wir auch Ordnung schaffen würden. Das mag unbefriedigend sein, lässt sich aber nicht ändern. Und die Letzten, die es ändern können, sind erstens Populisten, die vorgeben, einfache Antworten gefunden zu haben, und zweitens jene, die sich die Augen zuhalten und sagen: „Alles super.“

Simon Hadler, ORF.at

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