Szene aus "Lucky"

Viennale

„Lucky“: Abschied in Feinripp

Beim diesjährigen Eröffnungsfilm beweist die Viennale wieder einmal Gespür für leise Töne, die in stürmischen Zeiten ans Herz gehen. „Lucky“, das Regiedebüt des Schauspielers John Carroll Lynch, ist eine Ode an das, was im Leben am Ende zählt, und eine ebenso vergnügliche wie feinsinnige Hommage an den kürzlich verstorbenen Charakterdarsteller Harry Dean Stanton.

Eine Schildkröte gibt das Tempo vor. Gemächlich bewegt sie sich durch die zerfurchte Wüstenlandschaft New Mexicos, am Rande einer kleinen, staubigen Stadt, die von schrulligen Charakteren bevölkert wird. Einer von ihnen ist Lucky, ein 90-jähriger Einsiedler, US-Navy-Veteran, Freigeist und Atheist. Er lebt in einem abseits gelegenen Häuschen, wo alltägliche Rituale sein - selbstbestimmtes - Leben bestimmen.

Rahmenprogramm

Regisseur John Carroll Lynch spricht am 20. Oktober um 19.00 Uhr im Festivalzentrum über seine Karriere und das Filmemachen im Allgemeinen - mehr dazu hier.

Eine Zigarette auf dem Weg

Waschen, Rasieren, ein wenig Yoga und zuvor erst mal eine Zigarette anzünden - so beginnt jeder Tag, bevor Lucky sich zu Fuß auf den Weg ins örtliche Diner macht, wo Kaffee und Kreuzworträtsel schon auf ihn warten. Jeder im Ort kennt und schätzt den alten Mann und die Gespräche mit ihm, egal ob der Restaurantbesitzer Joe, die Supermarktangestellte Bibi oder sein bester Freund Howard, den Lucky zur allabendlichen Bloody Mary in der Stammkneipe trifft.

Szene aus "Lucky"

Viennale

David Lynch (nicht verwandt oder verschwägert mit dem Regisseur) spielt Luckys Freund Howard

Die Menschen rund um ihn scheinen Lucky besser zu kennen als er sich selbst. Gefangen im Selbstverständnis der täglichen Routine hinterfragt er sein Dasein kaum, wohl auch weil er sich trotz seines Alters und zweier Schachteln Zigaretten pro Tag bester Gesundheit erfreut. Er gefällt sich in der Rolle des einsamen Wolfs, von niemandem abhängig und zufrieden, solange er seine Kreuzworträtsel und Spieleshows im TV hat. Lucky ist ein schräger Kauz, ein störrischer Eigenbrötler, der sich der eigenen Liebenswürdigkeit gar nicht bewusst ist.

Als er eines Tages dann doch mit seiner Sterblichkeit konfrontiert wird, beginnt er, sein Leben und die Personen, die darin eine Rolle spielen, in einem anderen Licht zu sehen. Plötzlich kommen längst verdrängt geglaubte Szenarien aus der Kindheit an die Oberfläche, Gefühle von Verlust und Reue und die Erkenntnis, dass ein Mensch vielleicht doch keine Insel - und schon gar nicht unsterblich - ist.

Die Rolle seines Lebens

„Lucky“ ist ein Film, der bis in die letzte Nebenrolle mit herausragenden Schauspielern besetzt ist. In der Titelrolle ist der kürzlich verstorbene Charakterdarsteller Stanton zu sehen. Bekannt aus über 200 Streifen verkörpert er seine erste Hauptrolle seit „Paris, Texas“ (Wim Wenders, 1984) und liefert damit eine der besten Darbietungen seines Lebens. Zerknittert wie die Landschaft rund um ihn füllt sein markantes Gesicht in den langen Close-ups von Regisseur Lynch die Leinwand aus. Und die morgendlichen Liegestütze in Feinrippunterwäsche haben jetzt schon Kultpotenzial. In den USA ist Stanton so etwas wie ein Nationalheiligtum, dem Lynch mit der Rolle des „Lucky“ am Ende seines Lebens ein würdiges Denkmal gesetzt hat.

Szene aus "Lucky"

Viennale

Alter Mann mit großem Herzen: Lucky singt ein zu Tränen rührendes Geburtstagsständchen

Regisseur Lynch - mit dem berühmten David Lynch, der Luckys Freund Howard spielt, weder verwandt noch verschwägert - kennt man ebenfalls aus zahllosen Nebenrollen in Filmen und TV-Serien, bevor er mit „Lucky“ erstmals hinter die Kamera trat. „Der Film wurde als Liebesbrief an den Schauspieler und Menschen Harry Dean Stanton geschrieben“, sagt Lynch über sein Werk. Und Stanton spielt seine Rolle so gut, dass man sich streckenweise in einer Doku über den amerikanischen Südwesten und seine Bewohner wähnen könnte.

Filmhinweis

„Lucky“ ist der Eröffnungsfilm der Viennale und läuft außerdem am 19.10. um 22.30 Uhr und am 20.10. um 13.00 Uhr jeweils im Gartenbaukino. Österreichweiter Kinostart ist im Frühjahr 2018.

Das große Ganze im Blick

Es sind die kleinen Momente, die dem Film seine Größe geben. Ein rührendes Geburtstagsständchen auf einem Kindergeburtstag, Gespräche über den Sinn des Lebens an der Bar oder die Suche nach einer entlaufenen Schildkröte erinnern einen sanft daran, was im Leben wirklich wichtig ist. Smartphone kaputt, Probleme im Job, ein paar Falten mehr im Gesicht? Alles egal, wenn man an das große Ganze denkt. Man kann ruhig ein schrulliger, alter Kauz werden, solange man die Welt um sich herum nicht vergisst. Und am Ende lächelt Lucky dem Tod ins Gesicht und bekommt dadurch noch ein wenig Galgenfrist.

Sonia Neufeld, ORF.at

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