Geyrhalters postapokalyptische Diashow
Geyrhalter hat bereits einmal einen postapokalyptischen Film gedreht, in dem aber Menschen vorkamen: „Pripyat“. Damals, es war sein dritter Film, 1999, fuhr er mit seiner Kamera in die Sperrzone rund um Tschernobyl, wo zwar niemand wohnen hätte dürfen, aber sehr wohl gearbeitet wurde, weil geforscht wurde und der Sarkophag des Unglücksreaktors immer noch nicht dicht war. Vier Menschen, die vom doppelten Lohn angezogen worden waren, ließ er damals vor der Kamera über ihr Leben berichten.

Viennale
Das Büro: Die Kollegen sind nicht mehr
Diesmal geht Geyrhalter an andere Orte - und einen entscheidenden Schritt weiter. Die Menschen sind aus den Bildern verschwunden. In rund 20 Sekunden langen Einstellungen werden Orte gezeigt, die von Menschen verlassen wurden. Wohnsiedlungen, die zugewuchert sind. Eine McDonald’s-Filiale mit eingeschlagenen Scheiben und Farnen vor dem Schaufenster. Ein OP-Saal, eine Kathedrale, ein Schokoladenautomat mitten im Dschungel, ein Observatorium, das erblindet ist, jede Menge Industrieruinen.
„Homo Sapiens“ in der TVthek
Die matinee stellte Geyrhalters Dokumentarfilm vor - mehr dazu in tvthek.ORF.at.
Posthumane Geräuschkulisse
Dazu die Geräuschkulisse: Vögel zwitschern, Bienen summen, der Wind bläst durch die Bäume, Regen prasselt auf verlassene Atomreaktoren, Tiergeräusche hallen durch leere Räume, Wasser plätschert, Tropfen fallen. Man darf sich die posthumane Zukunft nicht als Stille vorstellen, zumindest nicht so, als hätte jemand den Ton ausgeschaltet, nur weil es keine Menschen mehr gibt, die hören könnten.
Die Zukunft gehört den Farnen, dem Moos, den Insekten, dem Wasser. Es ist eine Diashow mit Soundkulisse, die Geyrhalter bietet, für die er um die halbe Welt gereist ist, an Orte wie Fukushima nach der Nuklearkatastrophe oder eine Stadt in Schweden, über die es in der Ankündigung zum Film heißt, sie sei 40 Jahre nach einem Dammbruch „als bizarre Schlamm- und Ruinenlandschaft“ wieder aufgetaucht. Geschichten könnte man über jeden dieser Orte erzählen. Aber Geyrhalters Erzählung kommt ohne Worte aus.
Gedanken an den Letztschlag
Es ist kein Geheimnis, dass es die Menschheit irgendwann nicht mehr geben wird - aber eine Wahrheit, mit der man nicht gerne konfrontiert wird. Bizarr ist die Schönheit der verlassenen Orte fürwahr, aber in erster Linie beklemmend.

Viennale
Kathedralen für die Ewigkeit - aber nicht ihre Besucher
Die Fantasie wird beflügelt, so sehr, dass der Film statt etwas über eineinhalb Stunden gerne doppelt so lange dauern hätte können - auch wenn es beunruhigende Gedanken sind, Gedanken vom Weltenende, von der Atomkatastrophe, vom Letztschlag, die einem beim Betrachten der Bilder im Kopf herumspuken. Wenn dem Menschen die Wahrheit schon zumutbar ist, dann auch jene über sein Ende.
Filmhinweis
„Homo Sapiens“ läuft bei der Viennale am 30. Oktober um 18.00 Uhr im Gartenbaukino und am 31. Oktober um 13.30 Uhr im Stadtkino im Künstlerhaus.
Kinostart: 4. November 2016
Nach der Apokalypse auf ein Bier
Der Film, könnte man meinen, ist eine Synthese von Geyrhalters Filmen. Die leeren Spitalsräumlichkeiten könnten aus der Doku „Donauspital“ (2012) stammen, nur eben nach der finalen Katastrophe, die leere Hühnerfarm aus „Unser täglich Brot“ (2005), die Fabrikshallen aus „Über die Jahre“ (2015). Nur, dass hier Menschenleere herrscht. Verlässt man den Kinosaal, hat man das starke Bedürfnis, mit Freunden auf ein Bier zu gehen und das Leben zu feiern. Solange es ihn noch gibt, den „Homo Sapiens“.
Simon Hadler, ORF.at
Links:
- Ö1-Beitrag
- Homo Sapiens (Viennale)