Filmstill aus "Auf Ediths Spuren"

Viennale

Edith Tudor-Hart: Spurensuche im KGB-Universum

„Jede Familie hat ihre Geheimnisse“, so Peter Stephan Jungk, Schriftsteller und Regisseur der Dokumentation „Auf Ediths Spuren“. Jungks Großtante Edith Tudor-Hart war Bauhaus-Schülerin und erfolgreiche Fotografin - erst in den 90ern wurde ihre Vergangenheit als Spionin im Dienste der Sowjetunion bekannt. Filmische Ahnenforschung zwischen Wien, London und Moskau.

Die Stationen in Tudor-Harts Leben könnten genauso gut die Basis für einen Agententhriller bilden: Von der Montessori-Pädagogin zur Künstlerin, zu einer der zentralen Figuren der sowjetischen Spionage-Aktivität in Großbritannien - dazu Affären, Verhöre und eine gehörige Portion Idealismus. Doch das Leben der geheimnisvollen Großtante dürfte alles andere als glamourös gewesen sein: Von konstanter Angst und Schicksalsschlägen gezeichnet, ist Tudor-Hart eine tragische Figur inmitten der Schrecken des 20. Jahrhunderts.

Filmstill aus "Auf Ediths Spuren"

Viennale

Animierte Szenen erzählen aus dem Leben von Edith Tudor-Hart

„Meine Tante Edith war eine bedeutende Fotografin“ erzählt Jungk und stellt ihr künstlerisches Werk an den Anfang seiner Dokumentation. Als Edith Suschitzky 1908 in Wien geboren, studierte sie am Bauhaus in Dessau Fotografie. Mit ihrer Rolleiflex fing sie in den 30ern das Wien der Zwischenkriegszeit ein: Porträts von verarmten Familien, ein Maiaufmarsch - aber auch ein Blick aus dem Riesenrad. Jungk überblendet die Motive von damals mit Ansichten der Gegenwart.

Von Wien nach London

Nach dem Verbot der KPÖ im Jahr 1933 war für Tudor-Hart, als engagierte Kommunistin, bald kein Platz mehr in Wien: Noch im selben Jahr verließ sie gemeinsam mit ihrem Mann Alexander, den sie zuvor bei einem Großbritannien-Aufenthalt kennengelernt hatte, die Stadt und emigrierte nach London. Die Kamera begleitete sie stets dabei: eine Demonstration von Arbeitslosen in Wales, ein Obdachloser mit Akkordeon, Armut auf den Straßen Londons.

Regisseur Jungk geht den Pfaden seiner Tante nach und befragt vor Ort Kunsthistoriker zu ihrem fotografischen Werk und Ex-Agenten zu ihrer Tätigkeit im Dienste des KGB. Kommunikation wird - da wie dort - als ihr größtes Talent gewertet: Während ihre Bilder davon leben, dass sie stets Kontakt zu ihrem Motiv pflegt, gilt sie in Geheimdienstkreisen als unverzichtbare Vermittlerin.

Schwierige Suche im KGB-Archiv

Die „Cambridge Five“, ein Bund aus fünf sowjetischen Spionen, die im Zweiten Weltkrieg und bis in die 50er hinein Informationen an Russland weiterleiteten, geht unter anderem auf Tudor-Harts Initiative zurück. Während den - ausschließlich männlichen - Mitgliedern des Spionagerings Denkmäler gewidmet wurden, wurde Edith selbst nie Teil der Geschichtsschreibung.

Filmstill aus "Auf Ediths Spuren"

Viennale

Wolf Suschitzky (Mitte) diskutiert mit seinen Söhnen über die bewegte Vergangenheit seiner Schwester

Die Ursachenforschung gestaltet sich für Jungk in Russland besonders schwierig: Mit dem Fall der Sowjetunion war das Archiv des KGB Anfang der 90er kurz zugänglich - aus dieser Zeit stammt die Information, dass Tudor-Hart für den Geheimdienst tätig war. Heute ist die Sammlung jedoch wieder unter Verschluss - und Jungks authentische Neugier und Ehrgeiz steht plötzlich einem mächtigen Verwaltungsapparat gegenüber.

Kamerascheue Großtante

Schon im Vorjahr erschien unter dem Titel „Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart“ ein Buch von Jungk über das Leben seiner Großtante. Die Arbeit mit Film gestaltete sich vor allem visuell schwierig: Filmmaterial von Tudor-Hart gibt es keines, obwohl ihr Bruder Wolfgang zur selben Zeit Kameramann in London war. Mit Animationssequenzen wird diese Lücke geschlossen, manchmal werden auch nur subtile Akzente gesetzt, etwa indem der Rauch einer Zigarette in Bewegung gesetzt wird.

Im Gespräch mit Wolfgang Suschitzky wird auch noch einmal die Familiensituation in den Fokus gerückt, die den Ausgangspunkt für Jungks Nachforschungen darstellt: Die Frage, wer diese Tante wirklich war und ob es wirklich sein kann, dass niemand von ihrem Doppelleben gewusst hat. Kameramann Suschitzky, erst kürzlich im Alter von 104 Jahren verstorben, ist für den Dokumentarfilmer der einzige direkte Draht in die Vergangenheit.

Filmhinweis

„Auf Ediths Spuren“ läuft bei der Viennale am 31. Oktober um 18.00 Uhr im Gartenbaukino, sowie in englischer Fassung am 1. November um 11.00 Uhr im Stadtkino.

Kurzweilige Ahnenforschung

Manch in den Raum gestellte Frage bleibt dabei bis zuletzt unbeantwortet: Etwa jene, wieso Edith Tudor-Hart dem Kommunismus so lange treu blieb und von den Idealen der Sowjetunion so angetan sein konnte, mit dem Wissen, welche Verbrechen dem Stalinismus zuzurechnen waren - und ohne Moskau je besucht zu haben. Doch „Auf Ediths Spuren“ ist letztendlich vielleicht weniger politisches Statement als umfassende Ahnenforschung.

So ist es auch zu erklären, dass das eigentlich tragische Schicksal der Tante über weite Strecken unbeschwert und kurzweilig erzählt wird: Jungks Streben nach Antworten und Fakten über diese große Unbekannte in seinem Stammbaum ist charmant, das Leben der Edith Tudor-Hart zu facettenreich, um langatmig zu werden. Ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das nicht unverdient den Weg auf die Leinwand gefunden hat.

Florian Bock, ORF.at

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