Filmstill aus "Elle"

Viennale

Die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Leben

In Paul Verhoevens doppelbödigem Film „Elle“ weigert sich eine Frau nach einer Vergewaltigung, die Opferrolle zu übernehmen. Zur klassischen Rächerin wird sie aber auch nicht. Isabelle Huppert spielt diese Rolle brillant und mit trockenem, ironischem Witz. Ein provokantes Meisterwerk, in dem Männer lediglich Satirestatisten sind. ORF.at sprach mit Verhoeven.

In „Elle“ wird eine Frau vergewaltigt. Gleich in der ersten Szene des Films sieht man sie, eine fragile Gestalt, unter einem breitschultrigen, maskierten Mann liegen, Scherben auf dem blitzblanken Parkettboden eines geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmers. Die Terrassentür steht offen, eine Katze sieht aufmerksam und scheinbar ungerührt zu. Als der Mann aufsteht und verschwindet, wischt sich die Frau etwas Blut von der Stirn, beginnt aufzuräumen, lässt sich ein Bad ein und bestellt Sushi.

Doppelter Boden

Seltsam wirkt diese Szene, beinahe wie die Inszenierung einer Inszenierung und ist auch deshalb verstörend. Sofort tun sich Fragen auf und verweisen auf den doppelten Boden, auf dem sich dieser Film permanent bewegt. Irgendetwas „stimmt“ hier nicht. Aber was?

Szene aus "Elle"

Viennale

In „Elle“ geschehen verstörende Dinge

Regisseur Paul Verhoeven (78) drehte seine ersten Filme in den Niederlanden, ging dann nach Hollywood und feierte mit Blockbustern wie „Basic Instinct“ und „RoboCop“ riesige Erfolge. Doch vor allem mit seinen Arbeiten wie „Türkische Früchte“, „Soldat von Oranien“, „Spetters“, „Total Recall“ und „Starship Troopers“ erarbeitete er sich einen Ruf als einer der provokantesten Unterhaltungsregisseure. Seine Filmwelten sind amoralisch, seine Figuren oft explizit triebgesteuert. „Meiner Meinung nach wird die Welt von drei Themen beherrscht“, so Verhoeven selbst: „Sex, Gewalt und Religion. Also handeln auch meine Filme davon.“

Realistische Tentakelphalli

Auch „Elle“, sein erster französischsprachiger Film und sein erster Film nach zehn Jahren Schaffenspause, ist - zumindest oberflächlich betrachtet - ein Thriller über Sex, Sadismus und (pervertierte) Illusion. Das Drehbuch basiert auf dem lustvoll die bürgerliche Gesellschaft sezierenden Roman „Oh …“ des französischen Literaturrebellen Philippe Djian.

Brillant spielt die im März 66 Jahre alt gewordene Isabelle Huppert hier eine Frau Mitte 40 namens Michele, die zusammen mit einer Freundin eine Videospielfirma in Paris leitet. Aktuell arbeiten sie an einem Virtual-Reality-Spiel, in dem Ork-Monster unschuldige Schulmädchenavatare mit Tentakelphalli vergewaltigen. Michele muss ständig nachjustieren, damit es auch „wirklich echt aussieht“.

Filmstill aus "Elle"

Viennale

Michele und das Ork-Monster

Schnell wird klar, was hier nicht „stimmt“. Es ist vor allem Micheles Verhalten nach der Vergewaltigung, aber auch generell in ihrem Alltag, ein Verhalten, das wider jedes Klischee verläuft. Michele ist niemand, der um Sympathie buhlt. Sie ist sarkastisch, kühl und sehr zufrieden in ihrer Unnahbarkeit.

Ein allmählich sich entrollender (und doch zur Küchenpsychologie einladender) Nebenstrang schlägt vor, dass Micheles emotionsloses Verhalten in ihrer Vergangenheit begründet sein könnte: Ihr Vater wurde einst zum Massenmörder und die damals erst sechsjährige Michele zum Zentrum (und damals auch zum Opfer) sensationsgeiler Medienberichterstattung.

Das Negieren vermeintlicher Potenz

Nun entsteht besonders im Kontrast zwischen der Brutalität der Vergewaltigung und Micheles unbeeindruckter Reaktion darauf eine verstörende Subversion konventioneller Erwartungshaltungen. Das generiert eine absurde Komik. Michele weigert sich auf ihre Art und Weise, (noch einmal) ein Opfer zu sein. Auch als sie herausfindet, wer der Täter ist, geht sie nicht zur Polizei. Das ist kein Verhalten, das der Film als modellhaft propagieren möchte. Es ist ganz individuell die Figur Michele, die Institutionen nicht vertraut und die Verhoeven hier zeigt.

Michele will die Vergewaltigung ihr weiteres Leben nicht negativ beeinflussen lassen und wählt dafür provokante Strategien, um sich aus der Ohnmacht eines Opfers zu befreien. Sie nimmt dem Vergewaltiger seine Macht, indem sie seine vermeintliche Potenz negiert. Sie beginnt sogar, nun eigene – auch sexuelle – Vorteile aus ihrem Wissen über den Täter zu ziehen. Hierin liegt speziell großes Provokationspotenzial, denn die Art und Weise, wie sich Michele der Opferrolle verweigert, kann nicht allgemeingültig sein oder gar als richtiger gelten als andere Reaktionen. Verhoeven und Huppert balancieren auf einem schmalen Grat innerhalb des feministischen Diskurses, ein Balanceakt, der äußerste Präzision erfordert. Als zentraler Ankerpunkt in einer Geschichte, die von Machtumkehr und weiblicher Aneignung männlicher Dominanzmittel handelt, ist Michele eine überhöhte, eine extreme Figur.

Filmstill aus "Elle"

Viennale

Weibliche Selbstermächtigung durch männliches Dominanzverhalten

„Ich finde Michele nicht sonderlich mysteriös“, sagt Verhoeven im Interview mit ORF.at. „Sie ist unkonventionell, ja. Sie nimmt sich Raum. Sie ist nicht bereit, das Opfer zu sein, aber genauso wenig macht sie den Fehler, die Karikatur einer Rächerin zu werden. Oder gar, sich zu schämen. Sich nicht zu schämen ist eine große Würde, die man einer Figur geben kann.“

Sex ist Mittel auch weiblicher Macht

Sex ist in Verhoevens Arbeiten immer auch ein Mittel der Macht und ein Ausdruck von Abhängigkeiten, emotionaler wie ökonomischer. „Normalerweise sieht man, wie zwei Menschen sich aufeinander legen und dann der eine dem anderen sein Ding reinsteckt“, so Verhoeven. „Aber das ist doch nie, was wirklich passiert. Es passiert immer viel mehr, das man nicht sehen kann.“

Filmhinweis

„Elle“ läuft bei der Viennale am 25.10. um 23.00 Uhr und am 27. Oktober um 20.30 Uhr, jeweils im Gartenbaukino.

Als „Vergewaltigungskömödie“ will er seinen Film nicht bezeichnet wissen: „Das suggeriert, dass eine Vergewaltigung komisch ist oder sein könnte. Das ist unmöglich. Aber dies ist auch ein Film über Gleichzeitigkeit. Dinge passieren manchmal gleichzeitig. Immer gibt es im Leben Gewalt. Oder sexuellen Missbrauch. Und zur selben Zeit gehen Menschen auf Partys und in Restaurants und sie haben Spaß miteinander und sie haben Sex miteinander und sie verhalten sich im Grunde amoralisch. Der Film ist also über eine Vergewaltigung, aber er handelt auch davon, wie Menschen leben und überleben.“

Alexandra Zawia, für ORF.at

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