„Einsatz verlief nicht störungsfrei“
Einen Tag nach den gewaltsamen Ausschreitungen in der Stadt Chemnitz im deutschen Bundesland Sachsen haben unter einem Großaufgebot an Polizeikräften Montagabend mehrere Kundgebungen von rechten und linken Gruppierungen stattgefunden. Es kam erneut zu Krawallen.
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Das Aufgebot der Polizei war zehnmal kleiner als die Zahl der Demonstrierenden. Wie am Dienstag offiziell bekanntgegeben wurde, beteiligten sich an der Demonstration der rechten Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ rund 6.000 Menschen. Dieser standen 1.500 linke Gegendemonstranten und -demonstrantinnen gegenüber. Diese waren dem Aufruf des Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“ gefolgt.
Die Polizei war mit knapp 600 Beamten und Beamtinnen im Einsatz. Der sächsische Landespolizeipräsident Jürgen Georgie will die Zahl der Polizisten und Polizistinnen in Chemnitz in den kommenden Tagen und Wochen „deutlich erhöhen“. Genaue Zahlen nannte er aber nicht.
Ermittlungen wegen Hitlergrußes
Die Polizei versuchte Montagabend, beide Lager zu trennen. Am Abend meldete sie bei Zusammenstößen von Demonstrierenden aber Verletzte, die im Krankenhaus behandelt werden müssten. Später präzisierte die Polizei die Zahl auf zwei Verletzte, am Dienstag wurde diese Zahl auf 20 revidiert - darunter zwei Einsatzkräfte. Zehn Ermittlungsverfahren wurden wegen Zeigens des Hitlergrußes eingeleitet. Augenzeugenberichten zufolge sollen diese auch vor den Augen der Polizei getätigt worden sein. 43 Anzeigen wurden laut Exekutive unter anderem wegen Körperverletzung, Landfriedensbruch und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen getätigt.

Reuters/Matthias Rietschel
Die Polizei versuchte mit einem Großaufgebot an Fahrzeugen und Einsatzkräften, die Lage unter Kontrolle zu halten
Einige Teilnehmende beider Lager hätten mit „Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen“ geworfen, so die Polizei. Sie versuchte mit Wasserwerfern, eine Eskalation der Situation zu verhindern. Die Wasserwerfer kamen aber offenbar nicht zum Einsatz. Schon zuvor hatte die lokale Zeitung „Freie Presse“ berichtet, dass die Stimmung aufgeheizt sei. Rechte Demonstrierende skandierten Sätze wie „Merkel muss weg“, auf Plakaten war etwa „Asylflut stoppen“ zu lesen. Laut Polizei wurden Anhänger und Anhängerinnen der Gegenseite direkt angegriffen. 35 Vermummte errichteten aus Stühlen und Tischen eine Barrikade, die die Polizei unter Einsatz von Pfefferspray räumte.
Polizei räumte Personalmangel ein
Nachdem sich die beiden Demonstrationen am Montagabend aufgelöst hatten, räumte ein Polizeisprecher Personalmangel in den eigenen Reihen ein. Man habe mit einigen hundert Teilnehmern und Teilnehmerinnen gerechnet und sich entsprechend vorbereitet, aber nicht mit einer solchen Teilnehmerzahl, sagte er gegenüber der dpa: „Der Einsatz verlief nicht störungsfrei.“ Noch am Nachmittag hatte Polizeipräsidentin Sonja Penzel versichert, ausreichend Kräfte angefordert zu haben. Es werde nicht zugelassen, dass Chaoten die Stadt vereinnahmen, sagte sie.
Nach Einschätzung der Polizei am Abend konnten eine Eskalation und ein Aufeinandertreffen der beiden Lager nur mit Mühe verhindert werden. Teilnehmende berichteten in Sozialen Netzwerken, dass es immer wieder Versuche gab, die Polizeikette zu durchbrechen.
Generalstaatsanwalt ermittelt
Zuvor hatte Sachsens Generalstaatsanwalt Hans Strobl erklärt, die Ermittlungen zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen am Rande des Chemnitzer Stadtfestes übernommen zu haben. Chemnitz wollte am Wochenende sein 875-jähriges Jubiläum feiern, doch das Stadtfest musste am Sonntag fünf Stunden vor dem eigentlich geplanten Ende abgebrochen werden. Am Nachmittag hatten sich rund 800 Menschen in der Innenstadt versammelt. Unter den Demonstrierenden waren Berichten zufolge auch gewaltbereite Rechte. Ursprünglich hatte die AfD zu einer „Spontandemo gegen Gewalt“ aufgerufen.
Videos in Sozialen Netzwerken zeigten Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten, zu hören waren Parolen wie „Das System ist am Ende, wir sind die Wende!“ und „Frei, sozial und national!“ Die Demonstration wurde von der vom deutschen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Hooligangruppe „Kaotic Chemnitz“ initiiert.
„Das nehmen wir nicht hin“
Die deutsche Regierung verurteilte die Ausschreitungen. „Was gestern in Chemnitz stellenweise zu sehen war und was ja auch in Videos festgehalten wurde, das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz“, sagte Steffen Seibert, Sprecher der deutschen Regierung, am Montag. „Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft und den Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin, das hat in unseren Städten keinen Platz“, so Seibert. Deutschlands Innenminister Horst Seehofer (CSU) wollte sich dagegen nicht äußern: „Ich möchte zunächst einen authentischen Bericht der Verantwortlichen.“
Ausschreitungen in Chemnitz
In Chemnitz, der drittgrößten Stadt von Sachsen, zog am Sonntag ein rechtsextremer Mob durch die Straßen und machte Jagd auf vermeintliche Ausländer. Am Montagabend gab es erneut rechte und linke Demos.
Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) sprach von einer „Situation, die für mich und für viele andere unerträglich ist. Wir haben Spekulationen, wie haben Mutmaßungen, wir haben Falschmeldungen und regelrechte Lügen im Netz“, sagte Wöller. „Ich kann uns alle nur bitten, besonnen zu bleiben, ruhig zu bleiben und den Fall entlang der Tatsachen abzuarbeiten und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen.“ Er sprach von einer „neuen Dimension der Eskalation“. Das hinterlasse Spuren bei den Beamten, „alle sind angespannt und herausgefordert“, sagte Wöller.
Der Generalsekretär der sächsischen CDU, Alexander Dierks, wies unterdessen Kritik an der Polizei und seiner Partei zurück. „Ich denke, dass die sächsische Polizei am gestrigen Tag durchaus vorbereitet war und dass es auch gelungen ist, Recht und Ordnung durchzusetzen“, sagte Dierks am Dienstag im Deutschlandfunk. Vorwürfe, dass die seit Langem in Sachsen regierende CDU rechte Gefahren verharmlost habe, seien nicht berechtigt. „Ich weise das deutlich zurück“, sagte Dierks.
Hochburg der rechten Szene
Neben „Kaotic Chemnitz“ gibt es in Chemnitz noch die Ultra-Fußballfangruppe „New Society“. Deren Anhänger bezeichnen sich laut „Spiegel“ auch als „NS-Boys“, verwenden Abbildungen aus NSDAP-Propaganda und haben seit 2006 Stadionverbot. Chemnitz gilt seit Jahren als Hochburg der rechten Szene. Der Verfassungsschutz hat nach eigenen Angaben zuletzt immer wieder Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Rechtsextremisten und Personen mit Migrationshintergrund registriert.

APA/AFP/dpa/Andreas Seidel
Chemnitz gilt als Hochburg der rechten Szene, der Verfassungsschutz geht von bis zu 200 Rechtsextremen in der Stadt aus
Tödlicher Messerangriff als Initialzündung
Auslöser der Eskalation war der Tod eines Mannes gewesen. Die Polizei teilte mit, er sei nach einer Auseinandersetzung im Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen. Sonntagnacht war es laut Polizeiangaben nach einem verbalen Disput zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen mehreren Personen unterschiedlicher Nationalitäten gekommen. In deren Folge erlitten drei Männer teils schwere Verletzungen, ein 35 Jahre alter Deutscher erlag noch in der Nacht in einem Krankenhaus seinen schweren Verletzungen.
In Sozialen Netzwerken hieß es, eine Frau sei belästigt worden, und die drei Männer hätten diese schützen wollen. Die Polizei wies diese Darstellung zurück. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte, dass eine Belästigung der Auseinandersetzung vorausgegangen sei. Die Polizei appellierte, sich nicht an Spekulationen zu beteiligen. Zurückgewiesen wurden auch Gerüchte über ein zweites Todesopfer nach der tätlichen Auseinandersetzung in der Innenstadt von Chemnitz.
Landespolizeipräsident Georgie bestätigte am Dienstag, dass es keine Hinweise auf sexuelle Belästigung gebe. Es habe einen Streit zwischen zwei Männergruppen gegeben, in dessen Verlauf Messer eingesetzt worden seien. Ein 35-jähriger Mann starb, zwei weitere Männer wurden schwer verletzt.
Haftbefehl gegen zwei Tatverdächtige
Montagnachmittag gab die Staatsanwaltschaft bekannt, Haftbefehle gegen einen Syrer und einen Iraker erlassen zu haben. Den beiden Männern werde vorgeworfen, „ohne rechtfertigenden Grund“ mehrfach auf einen 35 Jahre alten Deutschen eingestochen zu haben, teilte die Behörde mit. Am Dienstag schloss die Staatsanwaltschaft aus, dass die Tatverdächtigen in Notwehr gehandelt hätten.
Seitens der Linken wurde am Montag das zu geringe Polizeiaufgebot kritisiert. „Wenn Informationen durchsickern, dass es am Rande eines Stadtfestes einen Toten gab, dann hätte die Polizei eigentlich Gewehr bei Fuß stehen müssen - bei all dem Alkohol, der bei solchen Gelegenheiten konsumiert wird.“ Tatsächlich war die Polizei zunächst nur mit geringen Kräften an Ort und Stelle und eher machtlos: „Die Personengruppe reagierte nicht auf die Ansprache durch die Polizei und zeigte keine Kooperationsbereitschaft“, teilten die Beamten mit.
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