289 Mrd. Euro nach Griechenland geflossen
Fast ein Jahrzehnt haben Griechenlands Finanzen schwer auf Europa gelastet - ein Zusammenbruch des Euro oder ein Austritt des Landes aus der Gemeinschaftswährung haben gedroht. Am Montag bricht für das ehemalige Krisenland eine neue Zeit an: Erstmals seit 2010 muss das Land ohne internationale Hilfen auskommen. Das dritte Kreditprogramm des Euro-Rettungsschirms ESM ist zu Ende. Ob die Eigenfinanzierung langfristig klappt, ist keineswegs sicher.
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Griechenland hatte angesichts eines drohenden Staatsbankrotts acht Jahre lang Hilfen der Euro-Partner und des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten. Insgesamt flossen dem ESM zufolge rund 289 Mrd. Euro nach Athen - im Gegenzug für harsche Spar- und Reformmaßnahmen, darunter erhebliche Lohn- und Pensionskürzungen. Erst zuletzt wurde der Spardruck wieder deutlich, als die Feuerwehr nur unzureichend ausgerüstet gegen die verheerenden Brände nahe Athen ankämpfte.
Freunderlwirtschaft und Korruption
Rückblick ins Jahr 2010: Bei seinem Hilferuf an die EU und den IWF am 23. April erahnte der damalige Regierungschef Giorgos Papandreou bereits eine bevorstehende „neue Odyssee“. Sein Land stand damals kurz vor dem finanziellen Kollaps - „zwingend“ sei man auf sofortige Hilfszahlungen angewiesen, sagte der Sozialist in einer TV-Ansprache vor malerischer Kulisse auf der Insel Kastellorizo. Es folgte ein in der Geschichte der EU und des Euro beispielloses Drama.

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Papandreous Hilferuf im April 2010 - von der malerischen Insel Kastellorizo ereilte er die gesamte EU
Die Ursachen der schweren Krise wurden erst nach und nach offenkundig: Dazu gehörte, dass die relativ junge Demokratie - die Militärdiktatur wurde erst 1974 gestürzt - schwer unter Freunderlwirtschaft, Korruption und einem aufgeblähten Verwaltungsapparat litt. Insbesondere nach dem Euro-Beitritt 2002 überstiegen die Ausgaben die Einnahmen erheblich - aufgrund undurchsichtiger Statistiken blieb das Ausmaß der Verschuldung lange im Verborgenen.
„Wir überleben nur“
Nach Papandreous Hilferuf, der 2009 mit dem Slogan „Geld gibt es“ noch erfolgreich Wahlen bestritt, schmiedeten die Euro-Partner unter der Angst, die Krise könnte die gesamte Europäische Union zusammenbrechen lassen, ein erstes Hilfsprogramm von 80 Mrd. Euro. Im Gegenzug erteilte man Athen harte Reform- und Sparauflagen. Der Wohlstand im Land ging allgemein auf Talfahrt, die Arbeitslosigkeit schnellte in die Höhe, viele Bürgerinnen und Bürger hatten drastische Lohneinschnitte hinzunehmen.

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Im Frühling des Jahres 2012 eskalierte die Lage auf den Straßen von Athen - es gab mehrere Tote
Haushaltseinkommen fielen um mehr als 30 Prozent, und jeder fünfte Mensch in Griechenland hat nicht genug Geld für die nötigsten Ausgaben wie Miete, Strom und Kreditrückzahlung. Selbst jene, die Arbeit haben, sind von Armut betroffen. Denn die Löhne fielen nicht nur um die Hälfte oder mehr - sie werden oft auch erst mit monatelanger Verzögerung ausbezahlt. Und die Statistik täuscht auch: Zumindest die Hälfte der Arbeitsverhältnisse sind zeitlich befristet oder Teilzeit, so die „New York Times“. Laut OECD hat damit fast jeder zweite Haushalt mit zwei Kindern weniger Einkommen, als nötig ist, um über die Armutsgrenze zu kommen. „Das Ende des Rettungsprogramms macht für uns keinen Unterschied. Wir überleben nur, aber wir leben nicht“, fasste es eine Griechin gegenüber der „New York Times“ zusammen.
Politische Umbrüche
Die Wirtschafts- und Finanzkrise führte auch zu politischen Umbrüchen: Rasch verloren die Sozialisten an Rückhalt - die Menschen gingen in Scharen auf die Straßen, bei Gewaltausbrüchen kamen mehrere Menschen ums Leben. In der Folge wurde der konservativen Nea Dimokratia (ND) unter Antonis Samaras das Vertrauen geschenkt. Sie hatte das zweite Spar- und Reformprogramm umzusetzen, erneut unter erbittertem Widerstand der Menschen. In Athen brannten Gebäude, schwere Zusammenstöße mit der Polizei waren die Folge.
Letzter EU-Kreditempfänger
Griechenland war das letzte EU-Land, das in der Finanzkrise Hilfskredite bekam. In den vergangenen Jahren hatten bereits Spanien, Irland, Portugal und Zypern ihre Programme erfolgreich beendet.
„Troika“ als Feindbild
Feinbilder waren nicht nur die griechischen Regierenden, sondern insbesondere die „Troika“ aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und IWF, jenen Institutionen, die für das Monitoring der Sparprogramme zuständig waren. Besonderer Hass schlug dem damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) entgegen. Ein Umfeld, das einem neuen Politstar die Bühne bereitete.
Alexis Tsipras, bis heute Ministerpräsident, gewann mit seiner kleinen Linkspartei SYRIZA rasch an Zustimmung und schließlich die Wahl 2015. Was er versprach, gefiel den Griechinnen und Griechen: ein Ende der drakonischen Sparmaßnahmen. Das Kalkül: Die Troika hilft Athen aus Angst vor einem Flächenbrand weiterhin - auch ohne Gegenleistung. Es war auch die Geburtsstunde eines neuen Krisenpolitikertyps: Gianis Varoufakis, Finanzminister des Landes.

Louisa Gouliamaki
Kurz, aber intensiv war die Wirkungsphase von Ex-Finanzminister Varoufakis (l.), Premier Tsipras ist weiter an der Macht
Krisensitzungen und eine Kehrtwende
Die Folge waren viele nächtliche Krisensitzungen in Brüssel: Harte Auseinandersetzungen zwischen der Regierung unter Tsipras und den übrigen Euro-Staaten führten dabei fast zum Ausstieg Griechenlands aus der Euro-Zone und bedrohten den Euro. Varoufakis ging dabei mit allen Finanzministern der Euro-Zone, insbesondere dem niederländischen Finanzminister und Euro-Gruppe-Chef Jeroen Dijsselbloem, und Schäuble auf Konfrontationskurs.
In Griechenland ließ sich die Regierung den Rückhalt der Bevölkerung in Sachen Abwehrhaltung gegenüber den Sparprogrammen bestätigen - in einem Referendum wurde die Frage gestellt, ob ein weiteres Sparprogramm akzeptabel sei. Die Antwort - nein - war auch in ihrer Eindeutigkeit zu erwarten. Doch Tsipras konnte die Linie nicht aufrechterhalten, Varoufakis wurde gefeuert, ein neues, striktes Sparprogramm akzeptiert. Eine Wahl zur Legitimierung der Kehrtwende entschied Tsipras für sich.
Reibungslose Umsetzung
In den vergangenen rund zweieinhalb Jahren setzte Athen die Sparvorgaben allerdings weitgehend reibungslos um. Pensionen wurden gekürzt, Steuern erhöht. Das Land hatte zuletzt Ende Juni eine letzte Hilfstranche in Höhe von 15 Mrd. Euro zugesprochen bekommen. Damit erhöhte sich der Kapitalpuffer in Athen auf rund 24 Mrd. Euro. Im äußersten Fall kann sich Griechenland damit knapp zwei Jahre lang selbst finanzieren.
Doch Tsipras steht vor neuen Problemen: In Umfragen liegt SYRIZA inzwischen etwa zehn Prozentpunkte hinter der ND. Viele Griechinnen und Griechen spüren nichts vom jüngsten, leichten Wirtschaftswachstum. Noch immer ist fast jede oder jeder Fünfte arbeitslos. Auch leidet das Land unter einem Massenexodus: Mehr als 400.000 gut ausgebildete junge Menschen haben das Land verlassen.
„Griechischer Patient nicht endgültig genesen“
„Der griechische Patient ist nicht endgültig genesen“, sagt der Wirtschaftsprofessor der Universität Athen, Panagiotis Petrakis. „Die Finanzmärkte werden bewerten, ob die Finanzspritzen und die Reformprogramme wirksam waren oder ob andere Lösungen und ein Schuldenschnitt notwendig sind.“ Entscheidend dürfte sein, ob Griechenland künftig genug Investitionen sichern kann.
In den nächsten Monaten muss Athen zudem noch intensivere Kontrollen der Euro-Partner dulden. Abweichungen vom Reformkurs sollen damit früh registriert werden. Das Land muss Kurs halten: Noch immer türmt sich in Athen ein gewaltiger Schuldenberg in Höhe von etwa 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - der mit Abstand höchste Wert in Europa. Seit Beginn der Krise ist sowohl die Wirtschaftskraft des Landes als auch das Pro-Kopf-Einkommen deutlich geschrumpft.
Zweifel an Machbarkeit
Bis 2022 muss Athen nach der Einigung mit der Euro-Gruppe jährlich im Haushalt 3,5 Prozent Primärüberschuss - also ohne Ausgaben zum Schuldendienst - erzielen. Bis 2060 soll der Wert dann bei 2,2 Prozent liegen. In der griechischen Finanzpresse mehren sich Zweifel, ob das realistisch sei. „Die schwierigen Entscheidungen werden wieder einmal verschoben“, sagt ein hoher Funktionär des Athener Finanzministeriums mit Blick auf mögliche Schuldenerleichterungen. Nach derzeitigem Plan will sich die Euro-Gruppe im Jahr 2032 wieder mit Griechenland beschäftigen. Im schlimmsten Fall könnte es viel früher nötig werden.
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