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Reiche Ernte, arme Ernter?

Warum wollen immer weniger ausländische Erntearbeiter nach Österreich kommen? Die Gewerkschaft erhebt schwere Vorwürfe, von Lohndumping bis Betrug - und ein Saisonarbeiter erzählt über schockierende Praktiken. Bauern sehen das Problem hingegen woanders.

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Juri, ein Ukrainer in seinen späten Zwanzigern, ist nervös. Beim Gespräch mit ORF.at wird er von einer Übersetzerin und von Sonia Melo begleitet, einer Aktivistin der Sezonieri-Kampagne, die mit der Gewerkschaft zusammenarbeitet. Juris Haut ist von der Sonne gegerbt, die blonden Haare sind ausgebleicht, und seinen Händen sieht man die harte Arbeit auf dem Feld an. Er zückt sein Smartphone und spielt eine Audiodatei ab.

Um 20.000 Euro betrogen

Auf Juris Audiodatei ist ein Österreicher zu hören, der in radebrechendem „Ausländer-Deutsch“, wie es früher auf Baustellen von Vorarbeitern benutzt wurde, zu einer Gruppe von Menschen spricht. Wenn man genau hinhört, liegt eine Interpretation dessen, was er sagt, nahe: Die Arbeiter bekommen ihre Überstunden nicht bezahlt. Dafür werden sie einen Monat länger angestellt, als sie eigentlich überhaupt im Land sind.

Juri sagt, dass es sich dabei um den Bauern, seinen Arbeitgeber handelt. Der sagt sinngemäß: Das sei die Abgeltung für Überstunden. Ganz abgesehen davon, dass diese Praxis höchst illegal ist: Am Ende haben die Arbeiter dann zwar möglicherweise in etwa so viele Stunden bezahlt bekommen, wie sie gearbeitet haben – allerdings nur 1:1 – ohne Überstundenzuschlag. Klingt nach einer Lappalie? Juri hat diese Praxis, wie er vorrechnet, in vier Jahren um knapp 20.000 Euro gebracht.

Wenn das Gemüse verfault

Das Ernten von Obst und Gemüse ist eine personalintensive Arbeit. Während für Getreide pro Hektar nur sechs bis acht Arbeitsstunden aufgewendet werden müssen - vom Ackern bis zur Ernte -, sind es bei Essiggurkerln 2.500 Stunden in einer Saison, wie Klaus Hraby, Geschäftsführer von efko, vorrechnet. Österreicher, sagt er, wollen die schwere Arbeit nicht machen. Also braucht es Erntehelfer aus dem Ausland.

Junge Polen auf dem „Gurkerlflieger“

Das Video und die Fotos zur Illustration dieses Artikels wurden in Ansfelden auf den Feldern von Bernhard Mayr gemacht. Gegen ihn liegen keine Vorwürfe vor - hier läuft alles nach dem Buchstaben des Gesetzes.

Für 2018 wurde ein entsprechendes Kontingent für zusammengenommen 2.885 Saisonniers und Erntehelfer aus Nicht-EU-Ländern freigegeben. Zu wenig, wird kritisiert. Es dürfen aufgrund der Niederlassungsfreiheit aber selbstredend zusätzlich Arbeiterinnen und Arbeiter aus der EU eingestellt werden. Das Problem: Immer weniger Ungarn, Polen und Rumänen wollen in Österreich arbeiten. Die Konsequenz: Gemüse bleibt auf den Feldern liegen und verfault.

Erntehelfer auf einem "Gurkerlflieger"

ORF.at/Lukas Krummholz

Polnische Studenten auf dem „Gurkerlflieger“ in Ansfelden. Gearbeitet wird kopfüber.

Schwerarbeit für 5,80 Euro die Stunde

Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein Grund ist auf jeden Fall die geringe Bezahlung, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. In Oberösterreich beträgt der kollektivvertragliche Mindestlohn pro Stunde lächerliche 5,80 Euro, in Tirol sind es 6,30 Euro. Zum Vergleich: In Deutschland werden 8,84 Euro bezahlt. Die Erntehelfer gehen schon alleine deshalb lieber nach Deutschland.

Die Landwirte sagen, und erhalten dabei Schützenhilfe ihrer Kammer und von Produzenten wie efko, dass an der geringeren Bezahlung in Österreich die Lohnnebenkosten schuld seien. Während in Deutschland ein Arbeitsmonat den Arbeitgeber rund 1.500 Euro koste, seien es in Österreich ca. 1.800 - und das, obwohl den Erntehelfern in Deutschland netto deutlich mehr bleibt. Bei Erntehelfern entfällt dort ein Teil der Lohnnebenkosten.

Das Ende der Essiggurkerln?

Bernhard Mayr steht auf einem seiner Felder im oberösterreichischen Ansfelden (Juri ist bei einem anderen Bauern in einem anderen Bundesland beschäftigt). Mayr geht in die Hocke und nimmt bedächtig eine kleine Gurke in die Hand, die definitiv bereits zu groß ist zum Einlegen. Bei diesem Feld sei es bereits zu spät, er habe nicht genügend Erntehelfer gehabt. Wenn die Politik nicht bald einlenkt, sagt der Landwirt, wird er mit den Gurkerln aufhören und sich ganz auf seinen vollautomatisierten Stall mit 40.000 Hühnern konzentrieren. Da braucht er kein Personal.

Gurkerl auf einem Feld

ORF.at/Lukas Krummholz

Wenn die Gurkerln zu Gurken werden, weil sie niemand pflückt

Auch efko-Geschäftsführer Hraby droht: Wenn es in Zukunft zu wenig Gemüse aus Österreich gibt, wird er deutsche Ware verkaufen. Dann gebe es eben keine heimischen Essiggurkerln mehr im Regal. Die Politik müsse endlich eine ähnliche Regelung wie in Deutschland erlassen.

Betrug als „Regel, nicht als Ausnahme“

Eine Argumentation, die Peter Schleinbach, Bundessekretär für Branchen- und Kollektivvertragspolitik der Produktionsgewerkschaft PROGE, auf die Palme bringt. So gelte etwa die Befreiung von der Sozialversicherung in Deutschland nur für Erntearbeiter, die nicht länger als 50, in Spezialfällen 70 Tage bleiben und die in ihrer Heimat bereits sozialversichert sind. Die allermeisten seien zu Hause aber nicht versichert und würden viel länger arbeiten, zwischen vier und sechs Monate - sie seien also nicht betroffen. Das verringere den behaupteten Unterschied bei den Lohnnebenkosten in Österreich und Deutschland erheblich.

Die Landwirte sollten eben besser kalkulieren: „Im Kollektivvertrag steht ein Mindestlohn, und wenn ich offensichtlich ein Problem habe, um für das Geld jemanden zu bekommen, dann muss ich mehr bezahlen, und die Leute werden kommen.“ Abgesehen davon sei das Hauptproblem, dass die Erntehelfer systematisch auch noch um ihren geringen Lohn betrogen würden - und das sei die Regel, nicht die Ausnahme.

800 Euro Miete für ein Minizimmer

Juri sagt, er werde nicht nur um die Überstunden betrogen. Sein Landwirt knöpft ihm demnach auch noch 200 statt der erlaubten 40 Euro fürs Wohnen ab - in einem kleinen Drei- bis Vierbettzimmer. Macht eine Zimmermiete von 600 bis 800 Euro. Damit nicht genug. Er müsse sogar noch um sein eigenes Geld kaufen, was er zum Arbeiten brauche: Etiketten für die Gemüsekisten, Gummiringerln fürs Zusammenbinden der Jungzwiebeln, eine spezielle Hose und Knieschützer für die Ernte.

Erntehelfer auf einem "Gurkerlflieger"

ORF.at/Lukas Krummholz

Bedächtig rollt der „Gurkerlflieger“ Zentimeter für Zentimeter über das Feld - immer und immer wieder

Schwindelerregende Abrechnungen

Das Hauptproblem aber bleibt die Lohnabrechnung. In einer Woche arbeitet Juri, wie er sagt, rund 80 Stunden an sechs Tagen. Das sind im Schnitt über 13 Stunden am Tag. Selbst wenn das korrekt abgerechnet würde, wäre es illegal. Doch die Lohnabrechnung scheint völlig undurchschaubar. Auf einem kopierten Lohnzettel, den Juri beim Interview vorlegt, sind 1.095 Euro Monatslohn verzeichnet. Das lässt sich mit seiner akribisch geführten Excel-Tabelle, in die er alle Arbeitsstunden einträgt, nicht vereinbaren.

Mehr bezahlt bekommt der Ukrainer trotzdem, versichert er, aber eben schwarz - zwischen 1.600 und 1.700 Euro im Monat. Ein Teil des Gehalts werde als Akkordlohn ausbezahlt: Je mehr man erntet, desto mehr verdient man. Abgesehen davon, dass das Risiko für eine schlechte Ernte dann beim Arbeitnehmer liegt, würde der Bauer jeden Tag die Tarife neu bestimmen - immer so, damit man nur ja nicht zu viel verdient, wenn das Gemüse gut wächst.

Auswahl weiterer Fälle

Zehntausende Euro an Nachzahlungen

Juri spricht oft mit Erntehelfern, die bei anderen Landwirten arbeiten. Die hätten es zum Teil noch viel schlechter. Da würden finanzielle Kollektivstrafen verhängt, wenn ein Gemüsestück auf dem Feld bleibt. Die Bezahlung sei mitunter noch geringer, und es müssten noch mehr Überstunden geleistet werden. Juris Angaben können nicht überprüft werden, weil er anonym bleiben und erst später vor Gericht gehen möchte. Zu viel Angst hat er vor einer Kündigung.

Aber Peter Schleinbach von der Gewerkschaft und Sonia Melo von der Sezioneri-Kampagne haben Dutzende Fälle wie seinen dokumentiert, im Burgenland, in Niederösterreich und in Tirol - ORF.at hatte Einblick. Zehntausende Euro an Nachzahlungen konnten vor Gericht für Erntehelfer erkämpft werden.

Die jungen Polen auf dem „Gurkerlflieger“

Bauer Bernhard Mayr sagt, in seinem Umfeld kenne er keinen einzigen solchen Fall, und er sei immerhin Arbeitgebervertreter. Auch Stefan Hametinger von der Landwirtschaftskammer Oberösterreich findet, dass da einzelne Fälle aufgebauscht würden. Zumindest in seinem Bundesland würde alles streng kontrolliert. Man habe nichts zu verbergen. Und Mayr lädt zu einem Ausflug auf ein Feld ein, auf dem noch geerntet wird.

Dort liegen rund 20 junge Menschen auf den Auslegern eines „Gurkerlfliegers“, der langsam durchs Feld rollt, und pflücken kopfüber Gurkerln. Zu seinen polnischen Studenten habe er ein hervorragendes Verhältnis. Schon zweimal sei er bei Hochzeiten in Polen gewesen. An arbeitsfreien Tagen leiht er den Erntehelfern einen Bus, damit sie zum Baden an einen nahen See fahren können. Trotzdem: Das Ernten sei beinharte Arbeit, sagt Mayr - er selbst sei in den ersten Jahren noch mit auf dem „Flieger“ gelegen.

Erntehelfer auf einem "Gurkerlflieger"

ORF.at/Lukas Krummholz

Nicht zuletzt die Hitze macht das Arbeiten der Erntehelfer auf dem Feld mühsam

Warum sie sich das antun

Schwere körperliche Arbeit ist es auf jeden Fall, das sieht man auch Juri an. Wenn man dann noch betrogen wird - warum tut man sich das an? Juri sagt, dass in seiner Heimat, der Ukraine, ein großer Teil der Menschen gerade einmal 100 Euro pro Monat verdient - und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele kämen ein paar Monate in den Westen und würden dann den Rest des Jahres davon leben.

Er selbst hat studiert und würde zu Hause 300 Euro verdienen. Damit kommt man zwar gut über die Runden, kann sich aber kein Haus bauen oder ein Auto kaufen. Juri will eine Familie gründen, deshalb kommt er seit vier Jahren für vier bis sechs Monate nach Österreich. Den Rest der Zeit? Da baut er ein Haus. 160 Quadratmeter Wohnfläche reichen für ihn und die Freundin und später hoffentlich auch für die Kinder.

Jetzt wird das Haus fertig, und Juri wird ab Ende des Jahres in seinem eigentlichen Beruf in der Ukraine arbeiten. Aber auch von seinen jüngeren Kollegen würden immer weniger nach Österreich kommen wollen, erzählt er. Die schlechte Behandlung reiche ihnen einfach - und das würde sich längst herumsprechen.

Schuld ist der Konsument?

Aber wer ist nun schuld daran, dass Erntehelfer, ob legal oder illegal, in Österreich für einen Schandlohn geschunden werden? Kommt drauf an, wen man fragt. Juri sagt: der Bauer, der auf seine Kosten zusehends reich wird. So ähnlich sehen das auch die Gewerkschaft und die Sezonieri-Kampagne. Beide, und dazu noch die Landwirtschaftskammer und der Landwirt sagen: Auch der Handel, der die Preise drückt, und die Konsumenten, die nur das Billigste kaufen wollen, seien in der Pflicht.

Am Ende, so scheint es, können sich alle darauf einigen, dass „die Globalisierung“ und „der Kapitalismus“ für die Lage der Erntearbeiter verantwortlich sind. Nur: Die beiden geben keine Interviews.

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