„Kriege sind nie vorbei“
Schlaglichter und Erinnerungsschnipsel, die ein fein konstruiertes Mosaik ergeben – so funktioniert die Literatur des Kanadiers Michael Ondaatje. Spätestens seit „Der englische Patient“ kennt man ihn als Meister der kunstvollen Verschränkungen. In „Kriegslicht“, seinem achten Roman, geht es dem 74-Jährigen einmal mehr um die lyrische Rekonstruktion eines Lebens jenseits aller Sicherheiten.
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Dieser Roman schillert und funkelt, obwohl nur ein schwaches „Kriegslicht“ die Beleuchtungsstärke vorgibt: Verdunkelte Kanäle im Norden der Themse, die Londoner „Tube“ im trüben Schein der Kugellampen, leerstehende Häuser, in die nur das Licht der Straßenlaternen dringt, eine Schachpartie, schwach beschienen von einer Natriumdampflampe. Die Szenerie und die alles bestimmende Atmosphäre ist düster und geheimnisvoll – wohl auch, weil der Titel jenseits der realen Lichtverhältnisse Gültigkeit hat.
Ondaatje hat seine Geschichte ins London in der unmittelbaren Nachkriegszeit angesiedelt und hat, wie auf den letzten Seiten belegt, viel dazu recherchiert, was er nun lyrisch in Szene setzt: Der Krieg ist zu Ende, seine Spuren aber im Stadtbild und im Alltag deutlich sichtbar. Im zerbombten, „verwundeten“ und „seiner selbst nicht sicheren“ London sind die Gesetze der Friedenszeit noch weit entfernt. „Das ganze Leben hat noch immer etwas Zufälliges und Verwirrendes“, stellt der Erzähler Nathaniel fest. Schon früh schwelt hier irgendwie, was erst gegen Ende ausformuliert wird: „Kriege sind nie vorbei.“

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Michael Ondaatje, weltberühmt für „Der englische Patient“
Ein Überseekoffer im Kellerversteck
Nathaniel ist 14, seine Schwester fast 16, und der Roman beginnt mit einem Paukenschlag: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“ Wie in einem „Märchen“, kommentierte das der aus Sri Lanka stammende und selbst in London aufgewachsene Ondaatje in einem Interview – und dieser Hang zum Märchenhaften oder viel eher zum Traumgleichen und atmosphärisch Dichten ist es auch, der den Ton des ersten Teils vorgibt. Wie schon in „Der englische Patient“ (1992) und auch „Anils Geist“ (2000) entblättert Ondaatje eine im Kern dramatische Geschichte erst sukzessive, eher indirekt und über Andeutungen.
Buchhinweis
Michael Ondaatje: Kriegslicht. Übersetzt aus dem Englischen von Anna Leube, Hanser Verlag, 320 Seiten, 24,70 Euro.
Viel bleibt also im Vagen – klar ist nur, dass einiges nicht stimmt. Eigentlich sollten die Eltern für einen Job in Singapur weilen. Irgendwann aber finden die Kinder den Überseekoffer ihrer Mutter im Keller und wissen, dass sie belogen wurden, wissen, dass zumindest die Mutter nicht im Ausland ist. Was geht hier vor sich und warum? Und wer sind diese Leute, die sich an Stelle der Eltern um sie kümmern? Einen von ihnen nennen sie den „Falter“. Er ist ein Bekannter der Eltern, scheu, geheimnisvoll, vielleicht ein wenig gefährlich, in jedem Fall unkonventionell und trotz allem ein fürsorglicher Begleiter.
Der „Falter“ interessiert sich nicht für das Schuleschwänzen der Kinder, hegt dagegen eine „heftige Neugier“ für die Häuser der Aristokratie und erlaubt seinen Schützlingen, an dem ebenso regen wie geheimnisvollen Leben teilzuhaben, das jetzt das vormals aufgeräumte Haus durchdringt. Aus dem „nächtlichen Zoo“ des illustren Freundeskreises lernen die Kinder eine Opernsängerin, eine Ethnologin und auch den „Boxer von Pimlico“ kennen, einen lebensfrohen und kundigen Schmuggler, der für Nathaniel bald zur wichtigsten Bezugsperson wird.
„Erster magischer Sommer“
Die Abwesenheit der Eltern, sie ist also nicht nur verwirrend, sondern auch verheißungsvoll – ein Fenster der Möglichkeiten, das Nathaniel den „ersten magischen Sommer meines Lebens“ beschert, den Ondaatje über scharfe, detailliert gezeichnete Szenen ausleuchtet: Nathaniel bei der Arbeit als Geschirrwäscher und Liftboy im Criterion Hotel. Die nächtlichen Fahrten mit dem Boxer auf dem Muschelboot, auf denen sie Windhunde für Rennen und andere geheimnisvolle Ware über die Londoner Wasserwege schippern. Die aufregenden Nächte mit der gleichaltrigen Agnes, die die beiden in leerstehenden Häusern verbringen, vermittelt über Agnes’ Bruder, einen Immobilienmakler.
Ein Jahr vergeht, und der Roman mäandert dahin, wie die so oft befahrenen Kanäle der Themse und seine ein wenig ziellos scheinenden Figuren. Bis es zum harten Bruch kommt und die vormals nur diffuse, sich andeutende Bedrohung plötzlich in das Leben der Kinder einschlägt.
Auf den Spuren der Spionagevergangenheit
Wir treffen Nathaniel als 28-Jährigen wieder, als er einen Job im Außenministerium angenommen hat und sich in den dortigen Archiven bemüht, der Geschichte seiner Mutter auf die Spur zu kommen, einer Funkerin im Zweiten Weltkrieg und späteren Agentin des britischen Geheimdienstes. Hier, in diesem zweiten Teil, wird plötzlich fast alles auserzählt, Andeutungen werden aufgeklärt, und den Leserinnen und Lesern wird vor Augen geführt, dass sich selbst die kleinsten Mosaiksteinchen in dieser so fein gestrickten Rekonstruktionsgeschichte passgenau ins Bild einfügen lassen – bis hin zur gezeichneten Landkarte der Mutter, die Schlüssel zur Frage ist: „Was hast du Schreckliches getan?“
Das ist beachtlich ausgeklügelt und überaus packend, schraubt aber das lyrische Element des ersten Teils, in den Ondaatje mit einer bemerkenswerten Leichtigkeit hineinzuziehen weiß, ein wenig zurück.
Erst diesen Juli ist der Bestseller „Der englische Patient“ mit dem Golden-Man-Booker-Preis zum Roman aller englischsprachigen Romane gewählt worden, kurze Zeit später gab es weitere Booker-Preis-Nachrichten für den Autor – nämlich eine Nominierung für die diesjährige Longlist. Was nur stimmig ist. Denn sein „Kriegslicht“ ist nicht nur dämmrig, sondern auch von außerordentlicher Detailschärfe, betörend in seinen Bildern, verstörend, wenn die Brutalität hereinbricht, mal sentimental, immer zärtlich gegenüber seinen Figuren, und eben auch: meisterlich strukturiert.
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