„Nobelpreisträgerin“ für Kinderliteratur
Ein untrügliches Gespür, was Kinder und Jugendliche lesen wollen, und viel Witz in Sprache und Inhalt: Christine Nöstlingers Bücher sind seit über vierzig Jahren nicht aus den Kinderzimmern wegzudenken. Vor wenigen Tagen ist Nöstlinger verstorben, wie ihre Familie am Freitag nach dem Begräbnis der Schriftstellerin mitteilte.
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Kinder möge sie genauso gern wie Menschen aller anderen Altersgruppen, doch speziell kinderlieb sei sie nicht, erklärte Nöstlinger gern ihr Verhältnis zur Zielgruppe. Dieser Zugang machte ihre Bücher so authentisch und zu Dauerbestsellern. Anbiederndes, Belehrendes oder einen erhobenen Zeigefinger suchte man vergeblich im Werk der Wiener Schriftstellerin, dafür umso mehr realistische Milieuschilderung, Sozialkritik und Fantastik in einer Sprache mit Dialektanklängen und eigenwilligen Neuschöpfungen.
Schöpferin zahlreicher Klassiker
Im Laufe ihrer Karriere hat Nöstlinger über 150 Bücher geschrieben. Ihr Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Bereits in den 1970er Jahren wurden die ersten Geschichten verfilmt. Zuletzt kam 2016 ihr autobiografischer Roman „Maikäfer, flieg!“ ins Kino. Darin verarbeitete sie ihre Erinnerungen an das zerbombte Wien 1945.

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Der erhobene Zeigefinger war Nöstlingers Sache nicht
Mit „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, „Olfi Obermeier und der Ödipus“, „Rosa Riedl, Schutzgespenst“ und den Serien „Geschichten vom Franz“ sowie „Mini“ schuf sie Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur.
„Wie soll ich wissen, was Kinder bewegt?“
Erst im Juni bekannte Nöstlinger in einem Interview mit dem Magazin „News“, mit dem Schreiben von Kinderbüchern aufgehört zu haben. „Meine eigene Kindheit ist schon eine historische, und die meiner eigenen Kinder auch schon bald. Es ist alles sehr, sehr anders geworden, und ich verstehe es nicht mehr. Das heißt nicht, dass ich ein abfälliges Urteil über heutige Kinder hätte“, sagte Nöstlinger.
TV-Hinweis
In Gedenken an Christine Nöstlinger ändert der ORF sein Programm. ORF eins zeigt am Sonntag ab 9.50 Uhr zunächst die Literaturverfilmung „Die 3 Posträuber“ und im Anschluss „Villa Henriette“. ORF2 zeigt am Sonntag ab 20.15 Uhr „Maikäfer flieg!“ und den dok.film „Mein Hernals“.
Und weiter: „Wie soll ich denn wissen, was Kinder bewegt, wenn sie einen halben Tag lang über dem Smartphone sitzen und irgendetwas mit zwei Daumen drauf tun? Außerdem, wenn ich so höre, was heutige Kinder gern lesen, ist das hauptsächlich Fantasy, und die liegt mir so was von fern.“
Kindsein - eine komplizierte Sache
Kindsein hielt Nöstlinger immer für eine komplizierte Sache, wie sie schon in früheren Jahren erklärte: Heute gebe es zwar eine breite Schicht an wohlhabenden Eltern, deren Kindern es wesentlich besser gehe als noch vor ein paar Jahren, „aber es gibt jede Menge Unterschichtskinder, denen geht es schlechter als früher“, sagte die Autorin.
Ihre Protagonistinnen und Protagonisten waren meist alles andere als Heile-Welt-Kinder - und auch wenn Gretchen, Franz, Mini und Co. so manche Kindheits- und Adoleszenzprobleme durch die Hilfe von Freunden, ihrer Fantasie oder Gespenstern lösen konnten, sind ihre Geschichten keine „Es wird alles gut“-Beruhiger. Ihre Figuren - sei es das dicke Scheidungskind in „Gretchen Sackmeier“, der blondlockige Bub aus der Serie „Geschichten vom Franz“ oder die Erstklässlerin aus der „Mini“-Serie - boten eine breite Identifikationsfläche und sind dadurch längst zu internationalen Kultfiguren avanciert.

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Nöstlinger mit ihrem ersten Buch „Die feuerrote Friederike“
Sprachlich eröffnete Nöstlinger für viele Kinder und Jugendliche neue Welten. Statt geschliffenen und politisch korrekten Tonfalls sprach sie ihr Publikum mit einem witzig-antiautoritären Ton an, so manche Schimpftirade - von „beleidigte Blunzen“ über die „Strebsau“ und die „Rotzpiepn“ bis zum „Hundsarsch“ - sorgte bei konservativen Erwachsenen für Stirnrunzeln und beim jungen Lesepublikum für Begeisterungsstürme. „Damals war es ein Problem, wenn in einem Kinderbuch einer den anderen als Trottel beschimpft hat“, erinnert sich Christine Nöstlinger - mehr dazu in fm4.ORF.at.
Die Moralpredigten der Mutter
Als Tochter eines Uhrmachers und einer Kindergartenleiterin kam Nöstlinger 1936 in Wien zur Welt. Gemeinsam mit einer Schwester wuchs sie in einfachen Verhältnissen in einem Arbeiterbezirk auf. Sie konnte sehr frech sein, ohne Angst vor der damals üblichen körperlichen Züchtigung zu haben, sagte sie 2016 in einem ORF-„Thema“-Interview mit Eva Kordesch anlässlich ihres 80. Geburtstags. Die Mutter hielt ihr Moralpredigten über Ordnung und gutes Benehmen - während der Vater im Hintergrund Grimassen schnitt. Er lehrte sie, sich vor blindem Gehorsam zu hüten.
„Es bringt etwas, wenn man Empathie entwickeln kann“
Im „Thema“-Interview sprach Nöstlinger 2016 unter anderem über die Werte, die sie in ihren Büchern vermitteln wollte, ihr unfreiwilliges Dasein als Hausfrau und den Beginn ihrer Karriere und den Rechtsruck in Europa.
Vieles vom Vater und vom Großvater, der ähnlich dachte, steckte in Nöstlingers Büchern, von denen die meisten den Aufbruchsgeist der späten 1960er und 1970er Jahre atmen. Ihr erstes Buch, „Die feuerrote Friederike“, trägt das sozialistische Rot schon im Titel - und das nicht von ungefähr. Voll Stolz berichtete sie, das erste „Arbeitergespenst“ Europas erfunden zu haben - eine spukende Hausmeisterin. In den 1970ern sei sie noch überzeugt gewesen, dass alles besser werde, dass die Aufklärung unaufhaltbar sei.
Wie Gewalt in den Alltag eindringt
Diese Überzeugung habe sie mittlerweile verloren, sagte Nöstlinger 2016 - was ihr, gerade angesichts des Alters, schwer zu schaffen gemacht habe. Sie konstatierte einen kontinuierlichen Verlust an Empathie in der Gesellschaft. Dass das Wort „Opfer“ zum gängigen Schimpfwort geworden sei und Mobbing an der Tagesordnung stehe, fand sie „unfassbar“.
Radiohinweis
Ö1 sendet am Samstag um 14.05 Uhr das Hörspiel „Iba de gaunz oamen Leit“, am Sonntag in den „Tonspuren“ ab 20.05 Uhr ein Feature über die Autorin. Außerdem wird Nöstlinger in der Literatursendung „Neue Texte“ (Sonntag, 21.40 Uhr) gewürdigt. Montag wird in „Guten Morgen Österreich“ eine Folge des „Dschi-Dschei-Wischer“ wiederholt.
Gewalt habe es auch früher unter Kindern gegeben, aber nicht so weit verbreitet, nicht so selbstverständlich. Und die Emanzipation der Frau sei ebenfalls noch längst nicht so weit, wie sie sein könnte - gerade was die Gehälter betrifft. Sie selbst habe schon bald gewusst, dass ihr ein Leben als Hausfrau und Mutter zu wenig sei. In der Folge schrieb sie unermüdlich - teilweise bis zu 70 Stunden pro Woche.
Keine „österreichische Lindgren“
Nicht nur mit ihren Büchern erreichte Nöstlinger ein Millionenpublikum: Ihre 1979 für den Ö3-Wecker kreierte Fantasiegestalt Dschi Dsche-i Wischer Dschunior gehörte zum morgendlichen Frühstücksritual zahlreicher Familien. Und auch wenn nie wirklich geklärt wurde, was ein „Wischer“ denn nun wirklich ist - auch in der Radioserie war die Autorin ganz nah an realen Problemen.
Denn auch wenn die Dschi Dsche-i Wischer in einem Iglu leben und mit Düsenkutschen und Rollschuhen herumfahren, „geht es bei uns Wischern so zu wie bei euch“. Das heißt: Plattitüden von Eltern, die dem Dschunior die Taschengelderhöhung verweigern; die Schuljause der Mitschüler ist viel verlockender als die eigene; und jede Menge Lebensweisheiten verpackt mit Sprachspielen und viel Wortwitz.
Nöstlinger wurde für ihr Schaffen vielfach ausgezeichnet und erhielt etwa 1984 für ihr Gesamtwerk den Hans-Christian-Andersen-Preis, 1998 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln und 2003 den ersten Astrid-Lindgren-Preis, den „Nobelpreis für Kinderliteratur“. Ihre berühmte schwedische Kollegin hat die Wienerin auch persönlich gekannt und „wahnsinnig gerne“ gemocht. Als österreichische Lindgren wollte sie aber dennoch nicht bezeichnet werden: „Ich glaub, ich bin die Nöstlinger.“
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