Warnung vor Stigmatisierung
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt die Sucht nach Computer- und Videospielen in ihren Katalog von psychischen Krankheiten auf. „Gaming Disorder“ wird in dem am Montag erscheinenden Verzeichnis direkt hinter Glücksspielsucht gelistet. Die WHO hofft darauf, dass dadurch die Forschung zur Videospielsucht stimuliert wird. Doch der Schritt ist umstritten.
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Vernachlässigte Freunde und Familie, kein normaler Schlafrythmus, schlechte Ernährung und Spielen, obwohl es keinen Spaß mehr macht: Für die WHO sind das Signale für eine „Gaming Disorder“. Per Definition handelt es sich dabei um ein mit Videospielen „zusammenhängendes Verhalten, bei dem die Kontrolle über das Spiel verloren geht, dem Spiel Vorrang vor anderen Aktivitäten gegeben wird und schließlich andere Interessen in den Hintergrund gedrängt werden“. Mindestens ein Jahr lang müsse dieses Verhalten andauern, damit man von einer Krankheit sprechen könne.
„Risiko, dass Diagnosen missbraucht werden“
„Es gibt klare Grenzen zwischen normalem Spielen und Spielsucht“, betont Vladimir Poznyak von der WHO. Doch Experten sehen trotzdem Risiken. Der Psychologe Andy Przybylski von der Universität Oxford warnte mit rund 30 Kollegen in einem offenen Brief vor dem Schritt. Zwar brauche Suchtverhalten auch im Bereich Videospiele „unsere volle Aufmerksamkeit“. Es bestehe aber „das Risiko, dass solche Diagnosen missbraucht werden“, schrieben sie.

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Videospiele sind längst Teil des Mainstreams, gegen exzessive Auswüchse sucht die WHO nun ein Mittel
Es müsse vielmehr geprüft werden, ob bei exzessiv spielenden Patienten nicht eher der Sucht zugrunde liegende Probleme wie Depression oder soziale Angststörungen behandelt werden müssten. Die Aufnahme würde zudem „Millionen von Kindern stigmatisieren, die Videospiele als Teil eines normalen, gesunden Lebens spielen“. Gewarnt wird in dem Brief von „moralischer Panik“ und „vorschnellen Diagnosen“.
„Von heute auf morgen therapiebedürftig“
Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt von der deutschen Uni Münster wies im vergangenen Jahr darauf hin, dass die Klassifikation im Hinblick auf andere „Mediensüchte“ zum „Dammbruch“ werden könnte: „Von Handysucht bis Social-Media-Depression wäre vieles als eigenständige ‚Medien‘-Krankheit denkbar. In der Folge wären zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene qua Definition von heute auf morgen therapiebedürftig.“
Wenig überraschend stellt sich auch die mittlerweile milliardenschwere Industrie gegen die Entscheidung. „Wir finden es problematisch, wenn das Spielen pathologisiert und die Spieler stigmatisiert werden“, sagte der Geschäftsführer des deutschen Verbands Game, Felix Falk. „Einige wenige Menschen spielen exzessiv, und das ist problematisch“, räumte er aber ein. US-Verbände nannten die Entscheidung „enorm mangelhaft“ und verwiesen auf die „bildende, therapeutische und erholsame Wirkung“ von Spielen.
Ein, zwei Prozent betroffen
Die Aufnahme in den Katalog sei ein erster Schritt, dann entwickle die WHO Richtlinien für Behandlungsmöglichkeiten, hieß es im Vorfeld. Befürworter hoffen, dass Betroffene durch den Schritt der WHO leichter Hilfe finden, ihre Krankheit besser anerkennen können und sich Therapieeinrichtungen besser auf das relativ neue Problemfeld einstellen können.
Laut Österreichs größter Einrichtung für Suchtkranke, dem Anton-Proksch-Institut (API) in Wien, sind schätzungsweise ein, zwei Prozent der Bevölkerung nach Onlinespielen süchtig. Den Schritt der WHO „begrüßen wir natürlich, weil es die Akzeptanz von Onlinegaming als Krankheit fördert und im besten Fall auch die Bereitschaft der Betroffenen erhöht, sich in Therapie zu begeben“, sagte Roland Mader, API-Experte für Onlinesucht.
Generell internetsüchtig sind laut Experten der Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie rund drei Prozent der Jugendlichen. Eine diesbezügliche Befragung unter Innsbrucker Schülern, die auf das Bundesgebiet übertragbar sei, wurde im Jahr 2016 veröffentlicht.
Formaler Beschluss steht noch aus
Der Katalog dient Ärzten als Hilfe bei der Diagnose. Zum anderen nutzen Krankenkassen ihn oft als Grundlage für Kostenübernahmen. Seine elfte Auflage, International Classification of Diseases, muss noch von der Weltgesundheitsversammlung im kommenden Frühjahr beschlossen werden. Das gilt als Formalität. Der Katalog enthält Tausende Krankheiten. Die zehnte Auflage stammte aus dem Jahr 1992, ist aber laufend aktualisiert worden.
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