Zivilgesellschaft unter Druck
In den vergangenen Jahren hat die russische Regierung unter Wladimir Putin zahlreiche repressive Gesetze erlassen. Sie unterdrücken die Meinungsfreiheit, grenzen Homosexuelle aus oder behindern die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten. Wegen der am Donnerstag beginnenden Fußball-WM steht das Land unter internationaler Beobachtung. Dass die Zivilgesellschaft von dieser Aufmerksamkeit profitiert, scheint jedoch unwahrscheinlich.
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Vor acht Jahren, kurz nachdem Russland zum Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2018 ernannt wurde, kam es zu Ausschreitungen unter russischen Fußballfans: Die einen waren Anhänger von Spartak Moskau, die anderen Jugendliche aus dem Nordkaukasus. Dabei wurde ein Fan durch ein Gummigeschoß getötet. Der mutmaßliche Täter wurde festgenommen, gelangte jedoch schon bald auf freien Fuß, was zu Protesten Tausender nationalistischer Hooligans und Rechtsextremer führte. Der russische Präsident Wladimir Putin legte einen Kranz auf dem Grab des Getöteten nieder, um die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen.
Für Nationalismus, gegen Hooligans
Dass die russischen Hooligans eng mit der rechtsextremen Szene verbunden sind, zeigten nicht nur die Proteste 2010. Immer wieder kommt es bei Fußballspielen zu rassistischen Vorfällen, die das Netzwerk Football Against Racism in Europe (FARE) dokumentiert hat. In der vergangenen Saison wurden schwarze Spieler als Affen beschimpft und Sportler aus dem Kaukasus mit Sprechchören beleidigt. Gegnerische Mannschaften wurden von der gesamten Fankurve beschimpft und als „schwul“ bezeichnet. Auch Neonazi-Lieder wurden gesungen.

Reuters/Vladimir Kutin
Rechtsextreme Anhänger des russischen Fußballclubs Spartak Moskau
80 solcher Vorfälle konnte das Netzwerk dokumentieren - weniger als in den Jahren zuvor, erklärt die Soziologin Julia Glathe vom Osteuropa-Institut der der Freien Universität Berlin. Der russische Staat setze mittlerweile viel daran, rechtsextreme Attacken aus den Stadien zu verbannen. Denn diese Hooligans würden nicht nur das Prestigeprojekt Fußballweltmeisterschaft gefährden, sie seien auch radikale Systemkritiker, so die Soziologin im Gespräch mit ORF.at.
„Diese Gruppen werden aus den Stadien herausgedrängt, um den Rassismus unter Fußballfans kontrollieren zu können“, erläutert Glathe. Überschneidungen zwischen dem Staatsnationalismus Putins und dem staatsfeindlichen Nationalismus der Hooligans gibt es dennoch, etwa was die Ausgrenzung Homosexueller betrifft.
Antwort auf das ideologische Vakuum
Seit Putin 2012 seine dritte Amtszeit im russischen Präsidentenamt angetreten hat, haben die nationalistischen Tendenzen im Land stark zugenommen. Das sei auch eine Folge des ideologischen Vakuums der Postsowjetzeit, sagt der Politikwissenschaftler Felix Laitner von der Universität Wien. Liberale Werte und das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat gerieten in den 1990er Jahren zunehmen unter Druck, und eine großrussische Ideologie breitete sich aus. Dieser Nationalismus ist seit dem Konflikt mit der Ukraine und der Krim-Annektierung 2014 enorm gewachsen, hat aber mittlerweile eine andere Ausrichtung.

AP/Dmitri Lovetsky
Aktivisten, die sich für die Rechte Homosexueller einsetzen, demonstrieren in St. Petersburg
„Zu diesem nationalistischen Konzept gehört die Definition innerer und äußerer Feinde, um ein Gefühl von Einigkeit herzustellen“, so der Politikwissenschaftler. Zu den Feindbildern, die aktuell mobilisiert werden, gehören Homosexuelle, Migrantinnen und Migranten aus Zentralasien und die Bevölkerung des Nordkaukasus. Die Verallgemeinerung, Russland sei grundsätzlich ein rassistischer Staat, lehnt Jaitner jedoch ab. „Es geht hier um eine politische Instrumentalisierung von Nationalismus und rassistischen Stereotypen, um Einigkeit zu stiften und von den vielfältigen Krisen im Land abzulenken“, so der Politikwissenschaftler.
Zivilgesellschaft ist nicht erwünscht
Zu diesen Krisen gehöre, dass Meinungsfreiheit und zivilgesellschaftliches Engagement in Russland unterdrückt würden, sagt die Rechtswissenschaftlerin Olesja Sacharowa von der Universität Irkutsk in Sibirien. Sie hat als Gastwissenschaftlerin am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien zur Situation der Menschenrechte in ihrer Heimat gearbeitet, die sich seit Jahren nicht verbessert. „Alle paar Monate kommt es in Russland zu Gesetzesänderungen, die die Existenz von Menschenrechtsorganisationen erschweren oder gar unmöglich machen“, schildert Zakharova gegenüber ORF.at.
Carola Schneider (ORF) zur WM in Russland
In Russland sei Sport immer auch Staatspolitik. Putin werde die WM nutzen, um Russland als freundliche und moderne Großmacht zu zeigen, so ORF-Korrespondentin Carola Schneider aus Moskau.
Von den 400.000 Nichtregierungsorganisationen, die es 2012 noch in Russland gab, existiert heute noch gut die Hälfte. Protestiert die Zivilgesellschaft gegen die Putin-Regierung, werden die Demonstrantinnen und Demonstranten von der Polizei verfolgt. Das zeigte sich beispielsweise im März nach dem Brand eines sibirischen Einkaufszentrums, bei dem mehr als 40 Kinder starben. „Als die Menschen wegen des mangelhaften Brandschutzes in dem Gebäude protestierten, wurden sie von den Behörden wie Straftäter behandelt“, so Sacharowa. Bei Protesten gegen Korruption oder Kürzungen im Bildungsbereich sei das nicht anders.
Lebensgefährlich, offen schwul zu sein
Auch die rechtliche Situation von Frauen und Homosexuellen hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Häusliche Gewalt wird nach einer Gesetzesänderung nur noch mit einer Geldstrafe, nicht mehr mit einer Haftstrafe geahndet. Wer sich gegenüber Minderjährigen positiv über Homosexualität äußert, wird dagegen mit Gefängnis bedroht. Das sei nicht nur ein massiver Einschnitt in die Meinungsfreiheit, homosexuellen Paaren mit Kinder werde dadurch das Leben in Russland unmöglich gemacht, sagt Marty Huber vom Verein Queer Base, der Menschen betreut, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden und aus ihrer Heimat flüchten mussten.
„In Russland hat sich nicht nur die rechtliche Lage von Homosexuellen verschlechtert, es kommt auch immer öfter zu Attacken im Alltag“, berichtet Huber. Man versuche seit Jahren, die Community unsichtbar zu machen. „Das ist auch ein Ausdruck des chauvinistischen Nationalismus, der innere und äußere Feinde als Legitimation braucht“, so Huber weiter. Symptomatisch sei auch, dass sich Russland nicht gegen die offene Verfolgungspolitik Homosexueller in Tschetschenien stelle. Dort sei es nach wie vor lebensgefährlich, offen schwul oder lesbisch zu sein.
Öffnung des Systems unwahrscheinlich
Dass sich die Situation wegen der Fußball-WM und der internationalen Aufmerksamkeit langfristig verbessern werde, glaubt Huber nicht. Hotlines, die man nach diskriminierenden Attacken kontaktieren könne, seien mehr Symptombehandlung als nachhaltige Verbesserung. Dass die Fußball-WM eine Liberalisierung Russlands zur Folge haben werde, bezweifelt auch Jaitner. „Die aktuelle politische Lage, der Konflikt mit der Europäischen Union, all das verstärkt diese Freund-Feind-Schematik weiter“, so Jaitner. Wenn sich daran nichts ändere, sei eine Öffnung des System unwahrscheinlich.
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