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Zahl der Vergewaltigungen steigend

Jährlich werden in Indien rund 40.000 Vergewaltigungen angezeigt. Obwohl der Staat Strafen für die Täter schon vor Jahren verschärft hat, scheinen diese bisher keine positiven Auswirkungen auf die Statistik zu haben. Seit 2012 sei die Quote an Vergewaltigungen um etwa 60 Prozent gestiegen, wie die Daten des National Crime Records Bureau (NCRB) in Neu-Delhi zeigen. Der Aufschrei in der Bevölkerung ist groß.

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Aus diesem Grund erließ Indien vor ein paar Tagen ein neues Gesetz, das die Vergewaltigung von Kindern unter zwölf Jahren unter Todesstrafe stellt. Bisher konnte maximal eine lebenslange Haftstrafe verhängt werden. Das Parlament muss nun innerhalb eines halben Jahres die Gesetzesänderung bestätigen und dauerhaft einführen.

Proteste in Jammu, Indien

APA/AP/Channi Anand

Frauen in ganz Indien fordern Gerechtigkeit für ein achtjähriges Mädchen, das vergewaltigt und ermordet wurde

Denn der Statistik zufolge würden Kinder immer öfter Opfer sexueller Gewalt. So sei die Zahl von Vergewaltigungen Minderjähriger zwischen 2012 und 2016 landesweit um 40 Prozent gestiegen. Die Zahl der Anzeigen liegt bei knapp 20.000 pro Jahr. Strafrechtlich verfolgt werden aber bei Weitem nicht alle Fälle. Etwa 85 Prozent bleiben laut einer Reuters-Analyse jedes Jahr unbearbeitet.

Vergewaltigung und Ermordung von Achtjähriger

Indien wird international häufig vorgeworfen, es lasse eine „Vergewaltigungskultur“ zu. Die Gruppenvergewaltigung und Ermordung der achtjährigen Asifa Bano im Bundesstaat Jammu und Kaschmir sorgte in letzter Zeit besonders für Entsetzen. Das muslimische Mädchen war im Jänner entführt, unter Drogen gesetzt und fünf Tage lang von mehreren Männern vergewaltigt worden, unter anderem in einem Hindu-Tempel. Sie wurde schließlich mit einem Schal gewürgt und mit einem Stein erschlagen.

Zu den Verdächtigen zählen vier Polizisten und ein Tempelwächter. Die hinduistischen Männer sollen das Verbrechen begangen haben, um als Nomaden lebende Muslime aus einem von Hindus dominierten Gebiet im Süden von Jammu zu vertreiben. Bei ihrem Prozess plädierten die Angeklagten auf nicht schuldig. Zwei Minister von Jammu und Kaschmir, die an einer Kundgebung zur Verteidigung der mutmaßlichen Täter teilnahmen und der Partei von Indiens rechtskonservativem Regierungschef Narendra Modi angehören, mussten zurücktreten.

„Dunkelste Stunde“ seit Unabhängigkeit Indiens

Die Kette an Vergewaltigungen und Ermordungen scheint nicht abzureißen. Manchen Berechnungen zufolge soll alle 22 Minuten eine Frau in Indien vergewaltigt werden. Dementsprechend groß ist auch die Empörung in der Bevölkerung - vor allem unter indischen Frauen. Zu Tausenden gehen sie immer wieder auf die Straßen, um für Gerechtigkeit und Sicherheit zu demonstrieren - viele von ihnen mit Schildern, die Modi direkt auffordern, endlich zu handeln. „Wenn ein junges Mädchen vergewaltigt wird, dann ist das ein herzzerreißender Vorfall“, reagierte der Premierminister jüngst auf die Demonstrationen im Fall Asifa und versprach, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Gleichzeitig plädierte er aber dafür, dass der Fall des kleinen Mädchens nicht politisiert würde.

Eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten verfasste anschließend einen offenen Brief an Modi, in dem sie die „Vergewaltigungskultur“ und Gewaltbereitschaft rechtskonservativer Hindus anprangerten. Es sei die „dunkelste Stunde“ seit der Unabhängigkeit Indiens. Sie sehen in vielen Gewaltverbrechen des Landes eine politisch-religiöse Motivation, was die Vergewaltigungen und Tötungen automatisch zum Politikum machen würde.

Diskriminierung als gelebte Realität

Ein Grund für die Gewalttaten gegen Frauen und Minderheiten, so Experten, sei das Kastenwesen, das zwar offiziell 1948 abgeschafft wurde, aber immer noch gelebte Realität ist und sozialen Stand, Werdegang und Familie bestimmt. Das Kastenwesen erlaube die Ungleichbehandlung verschiedener Bevölkerungsgruppen, und genauso sei die Diskriminierung von Frauen tief in der indischen Kultur verankert. Mädchen würden in der indischen Familie oft als Last gesehen - auch wegen der Praxis der Mitgift, die trotz Verbots nach wie vor ausgezahlt würde. Männern sei es außerdem inoffiziell erlaubt, den Bewegungsradius weiblicher Familienmitglieder einzuschränken.

Straßenszene in New Dheli

AP/Kevin Frayer

In Indien gibt es 37 Millionen mehr Männer als Frauen

Zudem werden weibliche Föten oft verbotenerweise gezielt abgetrieben. Das schlägt sich zunehmend auch in der Demografie nieder: So gibt es viel mehr Männer als Frauen - und zwar laut dem letzten Zensus um 37 Millionen mehr. Konsequenzen auf dem Arbeitsmarkt, in den Familien, aber auch im gesellschaftlichen Verhalten seien die Folge, wie die „Washington Post“ („WP“) vor Kurzem analysierte. Die Zahl einsamer Männer würde dementsprechend ebenfalls immer mehr, Gewaltbereitschaft, Prostitution und Menschenhandel würden steigen.

Änderung der Kultur möglich?

Hinzu kämen Langeweile, Frustration und übermäßiger Alkoholkonsum. Das würde vermehrt dazu führen, dass Männer Frauen belästigen. Zusätzlich spiegle sich das auch in Bollywood-Filmen wider, in denen männliche Helden den Widerwillen von Frauen brechen, wodurch diese sich dann in sie verlieben - ein weiterer Ansatz, die steigende Quote der Vergewaltigungen zu erklären. In den nobleren Gegenden Neu-Delhis würden die Bewohner aus diesen Gründen zunehmend damit beginnen, ihre Kinder auf die hohe Gefahr sexueller Gewalt aufmerksam zu machen, wie die „New York Times“ („NYT“) kürzlich berichtete.

So initiierte die Polizei in Neu-Delhi kostenlose Selbstverteidigungskurse für Mädchen sowie Gender-Kurse für Buben, die respektvolles Verhalten Frauen gegenüber vermitteln sollen. Die Kurse seien für die nächsten acht Monate ausgebucht. Doch scheint das in Anbetracht der Bevölkerungs- und Kriminalstatistik wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Es würde Jahrzehnte dauern, so Bevölkerungsexperten, alleine die demografischen Herausforderungen in den Griff zu bekommen - und dann sei man noch meilenweit vom Lösen der sozialen Probleme entfernt, die die Demografie mit sich bringe.

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