„Macht uns das Internet nicht kaputt!“
Seit Anfang der Woche hat die russische Zensurbehörde Roskomnadsor mehr als 19 Millionen IP-Adressen blockieren lassen, um den Messengerdienst Telegram lahmzulegen. Richter hatten die Blockade angeordnet, nachdem Telegram den russischen Geheimdiensten die Entschlüsselung privater Chats verweigert hatte. Seit Tagen liefern sich die Entwickler nun ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Behörden.
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Der von dem russischen Unternehmer Pawel Durow entwickelte Dienst wechselt ständig die IP-Adressen, über die es seinen Datenverkehr abwickelt, und greift dabei auf Drittanbieter wie Amazon Web Services oder Google Cloud zurück. Telegram-Nutzer wiederum sind auf unkontrollierbare Verbindungen ins Internet mit verschlüsselten VPN-Verbindungen oder dem Anonymisierungsdienst Tor ausgewichen.
Zensur verfehlt eigentliches Ziel
So funktioniert Telegram mehr oder minder unbeeinträchtigt weiter, während andere in Mitleidenschaft gezogen werden - im Kampf gegen die Entwickler blockiert die Behörde immer wieder auch unbeteiligte Dritte. Am Dienstag richtete Roskomnadsor eine Hotline ein, bei der Betroffene sich melden können, wenn ihre Internetdienste in Mitleidenschaft gezogen wurden - darunter waren russische Medien und Unternehmen, außerdem andere Chatdienste wie Viber und Internethändler.
Das Vorgehen gegen Telegram und dessen Gründer Durow gilt als bisher entschlossenster Versuch, den russischen Teil des Internets unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die Sperrversuche stoßen zugleich auf den stärksten Widerstand. „Macht uns das Internet nicht kaputt!“, forderte die Zeitung „Moskowski Komsomolez“. Die Wirtschaftszeitung „Wemodosti“ kritisierte das „Flächenbombardement“ der Behörden.

APA/AP/Pavel Golovkin
Papierflieger in Moskau gemahnen an das Telegram-Logo
Die verbliebenen liberalen Medien in Russland kritisierten nicht nur einen weiteren Schritt bei der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Sie erinnerten auch daran, dass Durow einer der wenigen Manager des Landes sei, der nicht dank Rohstoffen oder Beziehungen reich wurde, sondern mit einem innovativen Produkt, das von Menschen auf der ganzen Welt genutzt wird. Vor dem Gebäude des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in Moskau ließen Demonstranten Papierflieger in Anspielung an das Telegram-Logo steigen. Die Pussy-Riot-Aktivistin Maria Aljochina wurde deshalb am Mittwoch zu 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.
„Ich danke euch russischen Telegram-Nutzern für eure Unterstützung und Treue“, sagte Durow, der sich in Dubai niedergelassen haben soll. Er dankte den Konzernen Apple, Google, Amazon und Microsoft dafür, dass sie sich nicht an der „politischen Zensur“ beteiligt hätten. Es sei „entlarvend, dass autoritäre Regime versuchen, Telegram wegen der Verschlüsselung zu blockieren“. Telegram halte die Sperrung für „verfassungswidrig“ und werde weiter gegen sie vorgehen.
Beliebt bei Opposition und Führung
Wegen der Verschlüsselung ist Telegram bei Oppositionellen in vielen Ländern gefragt. Der FSB vermutet, dass auch Terroristen die Kommunikation nutzen. Gleichzeitig zählen in Russland viele Politiker und Journalisten zu den Nutzern. Was denn mit den zwei offiziellen Kanälen des russischen Außenministeriums auf Telegram geschehen solle, wurde dessen Sprecherin Maria Sacharowa gefragt. „Ich bin gegen eine Schließung“, sagte sie dem TV-Sender Doschd.
Der Pressedienst des Kremls hat indessen eine Alternative zu Telegram gefunden - fortan wird man über den Chatdienst ICQ kommuniziert. Dort wurde ein neuer Chatraum angelegt, in dem es Informationen für die Presse geben soll. Der Dienst gehört zu den Urgesteinen des Internets, war aber dann von Alternativen überholt worden. 2010 hatte AOL den Dienst nach Russland verkauft, er befindet sich nun im Besitz des Onlinekonzerns Mail.ru. Eigentümer ist der Milliardär Alischer Usmanow, ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin.

Reuters/Albert Gea
Der 33-jährige Telegram-Entwickler Pawel Durow gilt als „russischer Mark Zuckerberg“
Chamenei zieht sich zurück
Mit Telegram kann man wie bei WhatsApp und dem Facebook Messenger chatten, Fotos und Videos austauschen und telefonieren. Der russischen Regierung ist der Dienst schon seit längerer Zeit ein Dorn im Auge - und auch in anderen Ländern gibt es Bedenken. Das geistliche Oberhaupt des Iran, Ajatollah Ali Chamenei, ließ am Mittwoch wissen, er habe Telegram zum „Schutz der nationalen Interessen“ und zur „Beseitigung des Monopols“ verlassen.
Chamenei sagte, sein Rückzug von Telegram sei ein erster Schritt, um dessen Nutzung durch die Behörden zu stoppen. Telegram ist mit 40 Millionen registrierten Nutzern der beliebteste Messengerdienst im Iran. Es gibt seit Langem Spekulationen, dass die Regierung die App verbieten will, Präsident Hassan Rouhani hat sich jedoch bisher dagegen ausgesprochen. Zugleich versucht die Regierung alternative Apps wie Soroush und Gap zu fördern - viele Iraner fürchten aber, dass ihre Kommunikation bei diesen Anbietern vom Geheimdienst überwacht wird.
Bitcoins beflügeln
Durows hochfliegenden Plänen werden die Turbulenzen in Russland wohl keinen Abbruch tun. Sein Unternehmen bereitet derzeit das weltgrößte Initial Coin Offering (ICO) vor. Dabei wird bei Investoren Kapital eingesammelt, diese erhalten im Gegenzug digitale Anteile oder Münzen ähnlich wie Bitcoin. Über entsprechende Vorverkäufe soll Telegram bereits 1,7 Milliarden Dollar lukriert haben - auch von russischen Tycoons. Angesichts von 200 Millionen aktiven Nutzern, die Telegram eigenen Angaben zufolge weltweit hat, wäre der potenzielle Kundenstamm von Anfang an riesig, analysierte die „Süddeutsche Zeitung“. Der russische Markt macht dabei rund sieben Prozent aus - selbst ein dauerhafter Verlust dieses Anteils wäre für Durow leicht zu verkraften.
Ohnehin wäre möglich, dass Telegram bald aus dem Schussfeld der russischen Regierung gerät, das nächste Ziel könnte Facebook lauten. Die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor kündigte am Mittwoch eine Überprüfung des Netzwerks bis Ende des Jahres an. Behördenleiter Alexander Scharow sagte der Zeitung „Iswestija“, Facebook müsse einige Kriterien erfüllen. Dazu gehöre, dass die persönlichen Daten der russischen Nutzer in Russland gespeichert werden müssten. Außerdem müssten alle verbotenen Informationen gelöscht werden. Facebook liege bezüglich der Einhaltung der entsprechenden Gesetze bereits beträchtlich hinter der Zeit zurück. Bei Nichterfüllung der Kriterien stelle sich natürlich die „Frage der Sperrung“.
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