Bestandsaufnahme Innergebirg
Die Physis Salzburgs - und möglicherweise gilt das auch für die Seele des Bundeslandes - ist zweigeteilt. In der Ebene, um in der alten Terminologie des Erzbistums zu bleiben, das einwohnerstärkere Außergebirg und hinter dem Pass Lueg, im Süden: Innergebirg, jene Landschaft der engen Täler, die sich aus den Bezirken Pongau, Pinzgau und Lungau zusammensetzt. Wahlen in Salzburg mögen in der Ebene entschieden werden, doch wer Salzburg verstehen will, kommt um eine Bestandsaufnahme von Innergebirg nicht umhin.
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Als Hugo von Hofmannsthal in den Monaten nach Ende des Ersten Weltkriegs von der Rettung von „Österreichs unwiederholbarer Kultur“ träumte, da war ihm die Großstadt „mit all ihren Zerstreuungen“ als Schauplatz für diesen Rettungseinsatz suspekt. Salzburg sollte es bekanntlich sein, weil, wie es in seinem programmatischen Text „Die Salzburger Festspiele“ heißt, „das Salzburger Land das Herz vom Herzen Europas ist“. Es liege „in der Mitte zwischen Süd und Nord, zwischen Berg und Ebene, zwischen dem Heroischen und dem Idyllischen (...), zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, dem Uralten und dem Neuzeitlichen, dem barocken Fürstlichen und dem ewigen Bäuerlichen.“

Gerald Lehner
Ein mächtiger Gesteinsstock trennt Innergebirg von Außergebirg. Hier ein Luftbild aus 21.000 Fuß über Maria Alm: Oben links der Untersberg, darunter Watzmann und Königssee, links unten und Mitte das Steinerne Meer, daneben der Hochkönigstock, das Hagengebirge (Mitte), darüber der Göll und schließlich das Tennengebirge (oben rechts)
Grundverdacht gegen das Urbane
Ein Verdacht gegen alles Urbane weht durch die Schriften Hofmannsthals aus den frühen 1920er Jahren. In vielem galt ihm, dessen Familie vom orthodoxen Judentum zum katholischen Glauben konvertiert war, Salzburg mit seiner Geschichte als vielversprechenderer Ort für seine Pläne als der Wasserkopf Wien, wo man widersprüchlich über die Ausrichtung des neuen „Deutsch-Österreich“ debattierte.
Zu Zeiten Hofmannsthals füllten die literarischen Erkundungen des Innergebirgs bestenfalls die Notizbücher während der Sommerfrische. Persönliche Befindlichkeiten dominierten in den Texten. Und nicht von ungefähr schickt Walter Kappacher den Dichter H. in seinem bekannten historischen Roman „Der Fliegenpalast“ nach Bad Fusch, um in den Salzburger Bergen mehr das Los eines entwurzelten, alternden Künstlers zu thematisieren, als eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft auf dem Land zu inszenieren.

ORF.at/Gerald Heidegger
Die Idylle kann täuschen. Ins „innere Innergebirg“ kommt man jedenfalls nicht durch die Vordertür, wie zahlreiche Literaten von außen feststellen mussten.
Grundstimmung des alternden Dichters gegenüber der ihn umgebenden Landschaft: Es möge sich doch bitte möglichst wenig verändern gegenüber den Erfahrungen, die man hier in der Vergangenheit gemacht hat. Doch nicht einmal das Land hält sich an diese sentimentalen Vorgaben: „Nur schwer konnte er sich zurückhalten, seiner Frau zu schreiben, wie sehr sich Bad Fusch verändert hatte, sodass er sich beim Spaziergang kaum zurechtgefunden hatte zwischen all den neu erichteten Gebäuden und Hütten.“
„Außergebirgler verstehen Innergebirgler nicht“
„Eigentlich können die Außergebirgler die Innergebirgler nicht verstehen“, befindet der Altenmarkter Künstler Maximilian Steiner, der jüngst mit seiner „Innergebirgsoper“, die tatsächlich auf dem Berg stattfinden musste, eine Art Gegenentwurf zum Hochbetrieb der Salzburger Festspiele proklamierte.
Allerdings mag Steiner keine Dünkel gegen die Stadt oder Salzburg nähren. Für ihn gibt es einfach unterschiedlich prägende Lebensräume; und zwischen diesen Lebensräumen befinde sich im Fall von Salzburg zunächst einmal eine hohe Bergwand - übrigens ein Umstand, den so gut wie alle Literaten, die sich von der Stadt aus ins Innergebirg aufmachen, thematsieren: Vor der Ankunft steht die Durchquerung der bedrohlichen Steilwandklamm um den Pass Lueg.

derberg.innergebirg.at
Musiker Max Steiner und die Suche nach dem „inneren Innergebirg“
„Mich fröstelte, als ich einstieg“
„Ich bin mit dem Zug gefahren, mit dem Halbfünfuhrzug“, liest man etwa in Thomas Bernhards Auseinandersetzung mit der Topografie des Innergebirgs in seinem Durchbruchsroman „Frost“ aus dem Jahr 1963: „Durch Felswände. Links und rechts war es schwarz. Mich fröstelte, als ich einstieg. Dann wurde mir langsam warm. Dazu die Stimmen von Arbeitern und Arbeiterinnen, die aus der Nachtschicht heimkehrten. Ihnen galt sofort meine Sympathie. Frauen und Männer, (...) vom Kopf bis über die Brüste und über die Hoden bis zu den Füßen übernächtig.“
„Das Innergebirg ist eine schroffe Gegend, und die prägt zwangsläufig die Menschen, die da leben“, versucht der Altenmarkter Steiner im Gespräch eine Art charakterliche Bestandsaufnahme des Innergebirglers: „Überleben im Innergebirg hat über die Jahrhunderte geheißen: Disziplin, Fleiß, Leistung, sonst hätt’ man es in dieser Landschaft nicht derpackt.“ Mit der Zeit habe es natürlich Hilfsmittel, technologische Entwicklungen gegeben, die das Überleben erleichtert hätten. „Doch der Charakter und dieses Immer-weitertun-Müssen ist den Leuten geblieben, nur dass sie teilweise die Energie nun gegen das eigene Land richten“, so Steiner mit Blick auf die Gegenwart. „Heute kennen viele Innergebirgler ihr Innergebirg nimmer“, konstatiert er.

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In der Fläche ist das Innergebirg doppelt so groß wie das Außergebirg, bei der Einwohnerzahl verhält es sich umgekehrt
Dass Städter und Menschen aus der Ebene mit Ehrfurcht und Angst auf die Berge reagierten, kommentiert der Künstler, der seine Region und die Menschen darin als große Sozialplastik im Sinne von Joseph Beuys betrachten will, so: „Die Berge sind mein Schutzwall. Und mit meinem inneren Innergebirg schau ich durch alle Berge hindurch - und mein Horizont geht eigentlich bis Venedig.“
Unterwegs zum „inneren Innergebirg“
Schwer sei es eigentlich, ins „innere Innergebirg“ vorzustoßen, findet Steiner. Dieses müsse nochmals vom „äußeren Innergebirg“, also allem, was man an Landschaft und Menschen darin vorfinde, getrennt werden. Der Weg zum „inneren Innergebirg“ sei für den Außergebirgler zwar nicht unerreichbar, allerdings müsse der ein paar Täuschungen überwinden. Nicht die Freundlichkeit, sondern das geduldige Schauen hinter die Schroffheit sei der Schlüssel für eine langsame Annäherung an das Innergebirg.

Hannes Glanzer
„Dann steht vor dir diese Wand und nur oben sieht man ein bisschen Blau“: Der Maler Hannes Glanzer, der über Jahrzehnte im Pongau tätig war und dort zahlreiche Seilbahnstationen mit großflächigen Bildwerken ausgestattet hat, über seine Auseinandersetzung mit dem Innergebirg
Radikale Selbstauslieferung
Alle Literaten, ob sie nun aus dem Innergebirg stammten oder aus der Ebene in das Innergebirg gekommen sein mögen, stellen sich seit den 1960er Jahren genau dieser Schroffheit, ja zelebrieren im Umgang mit dem Innergebirg das Gefühl einer andauernden Selbstauslieferung. Am radikalsten tat das sicher Thomas Bernhard, der nach dem Tod seines Großvaters drei Jahre in St. Veit in der Lungenheilanstalt verbrachte.
Dass man Bernhard Gedenkräume und Andachtsveranstaltungen im Pongau einrichtet, ist in Anbetracht seiner Innergebirgsauseinandersetzung, die niemanden verschonte, fast ein Wunder - oder vielleicht doch auch eine sehr österreichische Form des Umgangs, im Zweifelsfall am Moment der Berühmtheit zu partizipieren.
Wahrnehmungen auf dem Weg nach Weng
Weng bei Goldegg ist für den Ich-Erzähler in Bernhards „Frost“ der „düsterste Ort“, den er je gesehen habe: „Ich kann mir vorstellen, dass auf die Dauer Menschen verrückt werden, die ununterbrochen Wahrnehmungen machen, wie ich sie auf dem Weg nach Weng herauf und in Weng gemacht habe, wenn sie sich nicht durch Arbeit oder Vergnügungen oder andere demtentsprechende Tätigkeiten ablenken, wie Huren oder Beten oder Saufen oder alle diese Tätigkeiten gleichzeitig.“

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„Ich kann mir vorstellen, dass auf die Dauer Menschen verrückt werden, die ununterbrochen Wahrnehmungen machen, wie ich sie auf dem Weg nach Weng herauf gemacht habe"
„Es ist offenbar nicht leicht, sich in Österreich zu Hause zu fühlen, insbesondere wenn einem die Unheimlichkeit der Heimat durch das Auftreten verschiedener Wiedergänger öfter als lieb ins Bewusstsein gerufen wird“, konstatierte der Autor W. G. Sebald einmal zu den Texten Bernhards und Peter Handkes. Dieses, wie Sebald schreibt, „ethnopoetische Interesse an den tiefgehenden Schädigungen der eigenen Heimat“ hallt bis in die Gegenwart nach.
Auf den Spuren Bernhards
Etwa, wenn der junge Goldegger Autor Thomas Mulitzer Bernhards Erfolg mit „Frost“ zum Anlass nimmt, eine Flucht-Biografie aus dem Innergebirg genau nach der Bernhard’schen Romanvorlage zu modellieren - das auch, um die Eindrücke Bernhards noch einmal mit der Biografie des Ich-Erzählers stilisiert abzugleichen: „Viel darf man sich wahrlich nicht erwarten, wenn man eine Reise ins Hinterland des Innergebirgs auf sich nimmt. Ich war mit wenig aufgewachsen und das wenige hatte mir nie gereicht. Jetzt kam ich zurück, mit weniger in den Händen als bei meiner Abreise.“
Buchhinweise
- Thomas Bernhard: Frost. Suhrkamp.
- Peter Handke: Am Fenster morgens und andere Ortszeiten 1982-1987. Suhrkamp.
- Walter Kappacher: Der Fliegenpalast. Dtv
- Walter Kappacher: Ich erinnere mich. Müry Salzmann.
- Thomas Mulitzer: Tau. Kremayr & Scheriau
- W. G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Literatur. S. Fischer.
- Norbert C. Wolf: Eine Triumphpforte österreichischer Kunst. Hofmannsthals Gründung der Salzburger Festspiele. Jung & Jung.
Die Bewohner Wengs werden als argwöhnisch gegenüber „Fremden“ beschrieben. Und ein Fremder, das wird wohl auch, wer sich aus der Verlaufsbiografie aus dem Dorf in die große Stadt begibt - ein Narrativ, das wohl für einige Gegenden Österreichs zutrifft: „Wer in die Stadt zieht, wird ein Fremder und wird es wohl immer schon gewesen sein.“
Kein Dorf gleicht dem anderen
Was die Orte im Innergebirg jedenfalls charakterisiert, ist ihre Unverwechselbarkeit. Goldegg und Weng wird man wohl ebenso wenig durcheinanderwerfen wie St. Johann und Schwarzach, und das nicht nur, weil verschiedene Gemeinden in ein und demselben Bezirk politisch vollkommen unterschiedlich aufgestellt sein können. Es ist die Knorrigkeit, die Widerständigkeit gewisser Orte, die auch die Menschen aus dem Außergebirg fasziniert.
So erinnert sich der mittlerweile in Obertrum lebende Stadt-Salzburger Schriftsteller Kappacher in seinem jüngsten Prosaband etwa an den Ort Mühlbach am Hochkönig, den Geburtsort seines Vaters genau unter den Vorzeichen einer beinahe unkorrumpierbaren Originalität: „Mühlbach posiert nicht. Die Menschen, die hier im Tal am Fuß des Hochkönigs leben, kann man nicht verwechseln, nicht einmal mit den Bewohnern der benachbarten Dörfer Dienten, Saalfelden, St. Veit oder Goldegg. (...) Es gibt ja bekanntlich im Land Salzburg viele landschaftlich reizvolle Ortschaften (...), mir hat es überall gefallen, aber nie wäre es mir eingefallen, in Zeiten, wenn mich die Ratlosigkeit niederdrückte, woanders hinzufahren als nach Mühlbach.“

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„Das Innergebirg ist eine schroffe Gegend, und die prägt zwangsläufig die Menschen, die da leben“
„Irgendwann hilft das Fürchten einfach nimmer“
In einem können sich Inner- und Außergebirgler sehr wohl treffen, bekennt auch der radikale Innergebirgler Steiner. Möglicherweise liege das an der Vermutung, dort, in der Bergregion, jene ungestellten Fragen zu finden, die man nicht einmal selbst genau verbalisieren könne, die einen aber magisch anzögen.
„Auf dem Weg durch die Berge“, so Steiner, „kommt man irgendwann an jenem Ende raus, wo das Fürchten einfach nimmer hilft.“ Er kann sich vorstellen, dass diese Erfahrung nicht zuletzt für Außergebirgler und vor allem Städter aus der Ebene heilsam sein könnte. „Am Ende löst man sich ohnedies im Berg auf“, sagt Steiner in Erinnerung an seine versuchten 100 Begehungen ein und desselben Berges in seiner Heimat. Um schließlich zu entdecken, welches das einzige Signal sei, das der Berg aussende: „die Stille“.
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